Beilage zu I, 1: Denkschrift zum Handschreiben Kaiser und König Franz Josephs an Kaiser Wilhelm, 2. Juli 1914

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Note: This is an attachment or appendix to the correspondence I, 1. Handschreiben Kaiser und König Franz Josephs an Kaiser Wilhelm, 2. Juli 1914.



Beilage            

Denkschrift



Nach den großen Erschütterungen der letzten zwei Jahre haben sich die Verhältnisse am Balkan so weit geklärt, daß es nun möglich ist, die Ergebnisse der Krise einigermaßen zu übersehen und festzustellen, inwiefern die Interessen des Dreibundes, insbesondere die der beiden zentralen Kaisermächte, durch die Ereignisse tangiert wurden, und welche Schlußfolgerungen sich für die europäische und Balkanpolitik dieser Machte ergeben.

Wenn man die heutige Situation mit jener vor der großen Krise unbefangen vergleicht, muß man konstatieren, daß das Gesamtergebnis, vom Standpunkte Österreich-Ungarns sowie des Dreibundes aus betrachtet, keineswegs als günstig bezeichnet werden kann.

Die Bilanz weist allerdings einige Aktivposten auf. Es ist gelungen, als Gegengewicht gegen das Vordringen Serbiens ein selbständiges albanesisches Staatswesen zu schaffen, das nach einer Reihe von Jahren, wenn seine innere Organisation vollendet sein wird, immerhin auch als militärischer Faktor in den Kalkül des Dreibundes eingestellt werden kann. Die Beziehungen des Dreibundes zu dem erstarkten und vergrößerten griechischen Königreiche haben sich allmählich so gestaltet, daß Griechenland, trotz seines Bündnisses mit Serbien, nicht unbedingt als Gegner anzusehen ist.

Hauptsächlich ist aber infolge der Entwicklung, die zum zweiten Balkankrieg geführt hat, Bulgarien aus der russischen Hypnose erwacht und kann heute nicht mehr als Exponent der russischen Politik gelten. Die bulgarische Regierung strebt im Gegenteile an, in ein näheres Verhältnis zum Dreibund zu treten.

Diesen günstigen Momenten stehen jedoch nachteilige gegenüber, die schwerer als jene ins Gewicht fallen. Die Türkei, deren Interessengemeinschaft mit dem Dreibunde von selbst gegeben war, und die ein starkes Gegengewicht gegen Rußland und die Balkanstaaten dargestellt hatte, ist aus Europa fast ganz verdrängt worden und hat eine wesentliche Einbuße an ihrer Großmachtstellung erlitten. Serbien, dessen Politik seit Jahren von feindlichen Tendenzen gegen Österreich-Ungarn geleitet wird, und das ganz unter russischem Einflusse steht, hat einen Zuwachs an Gebiet und Bevölkerung erreicht, der die eigenen Erwartungen weit übertroffen hat; durch die territoriale Nachbarschaft zu Montenegro und das allgemeine Erstarken der großserbischen Idee ist die Möglichkeit einer weiteren Vergrößerung Serbiens im Wege der Union mit Montenegro nahegerückt. Endlich hat sich im Laufe der Krise das Verhältnis Rumäniens zum Dreibunde wesentlich geändert.

Während die Balkankrise somit zu Resultaten geführt hat, die an sich schon für den Dreibund keineswegs günstig sind und den Keim einer speziell für Österreich-Ungarn unerwünschten weiteren Entwicklung in sich schließen, sehen wir andererseits, daß die russische und französische Diplomatie eine einheitliche und planmäßige Aktion eingeleitet hat, um die errungenen Vorteile weiter auszugestalten und einzelne von ihrem Standpunkte nachteilige Momente zu modifizieren.

Ein kurzer Überblick über die europäische Lage läßt klar erkennen, weshalb die Triple-Entente -- richtiger der Zweibund, denn England hat seit der Balkankrise aus erklärlichen und sehr bezeichnenden Gründen eine reservierte Haltung eingenommen -- sich mit den zu ihren Gunsten eingetretenen Verschiebungen am Balkan nicht zufrieden geben konnte.

Während die Politik der beiden Kaisermächte und bis zu einem gewissen Grade auch jene Italiens eine konservative ist und der Dreibund einen rein defensiven Charakter besitzt, verfolgt die Politik Rußlands wie Frankreichs gewisse gegen das Bestehende gerichtete Tendenzen und ist das russisch-französische Bündnis, als Produkt des Parallelismus dieser Tendenzen, in letzter Linie offensiver Natur. Daß die Politik des Dreibundes sich bisher durchsetzen konnte und der Friede Europas vor Störungen durch Rußland und Frankreich bewahrt blieb, war auf die militärische Superiorität zurückzuführen, welche die Heere des Dreibundes, vor allem Österreich-Ungarns und Deutschlands, gegenüber jenen Rußlands und Frankreichs unzweifelhaft besaßen, wobei das Bündnis Rumäniens mit den Kaisermächten ein hoch zu bewertender Faktor war.

Der Gedanke, die christlichen Balkanvölker von der türkischen Herrschaft zu befreien, um sie dann als Waffe gegen Zentraleuropa zu gebrauchen, ist seit altersher der realpolitische Hintergrund des traditionellen Interesses Rußlands für diese Völker. In neuerer Zeit hat sich hieraus die von Rußland ausgegangene, von Frankreich verständnisvoll aufgenommene Idee entwickelt, die Balkanstaaten zu einem Balkanbund zu vereinigen, um auf diese Weise die militärische Superiorität des Dreibundes aus der Welt zu schaffen. Die erste Vorbedingung für die Verwirklichung dieses Planes war, daß die Türkei aus den von den christlichen Balkannationen bewohnten Gebieten verdrängt werde, damit die Kraft dieser Staaten vermehrt und nach Westen hin frei werde. Diese Vorbedingung ist durch den letzten Krieg im großen und ganzen erfüllt worden. Dagegen ist nach dem Ausgange der Krise eine Spaltung der Balkanstaaten in zwei annähernd gleich starke gegnerische Gruppen, die Türkei und Bulgarien einerseits, die beiden serbischen Staaten, Griechenland und Rumänien andererseits, eingetreten.

Diese Spaltung zu beseitigen, um alle Balkanstaaten oder doch die entscheidende Mehrzahl zur Verschiebung des   e u r o p ä i s c h e n   Kräfteverhältnisses verwenden zu können, bildete die nächste Aufgabe, die sich nach dem Abschluß der Krise Rußland und mit ihm Frankreich stellte.

Da zwischen Serbien und Griechenland ein Bündnis bereits bestand und Rumänien sich mit diesen beiden Staaten wenigstens hinsichtlich der Resultate des Bukarester Friedens solidarisch erklärt hatte, handelt es sich für die Zweibundmächte im Wesen darum, den tiefen Gegensatz Bulgariens zu Griechenland und vor allem zu Serbien in der mazedonischen Frage auszugleichen, ferner eine Basis zu finden, auf welcher Rumänien bereit wäre, ganz ins Lager des Zweibundes abzuschwenken, und selbst mit dem mißtrauisch beobachteten Bulgarien an   e i n e r   politischen Kombination teilzunehmen, endlich, wenn möglich, eine friedliche Losung der Inselfrage herbeizuführen, um eine Annäherung oder den Anschuß der Türkei an die Balkanstaaten anzubahnen.

Über die Grundlage, auf welcher sich nach den Absichten der russischen und französischen Diplomatie die Ausgleichung dieser Gegensätze und Rivalitäten vollziehen und der neue Balkanbund aufbauen soll, kann kein Zweifel bestehen. Ein Bündnis der Balkanstaaten kann sich unter den heutigen Verhältnissen, da eine gemeinsame Aktion gegen die Türkei nicht mehr in Betracht kommt, nur gegen Österreich-Ungarn richten und nur auf der Basis eines Programmes zustande gebracht werden, das in letzter Linie auf Kosten der territorialen Integrität der Monarchie allen Teilnehmern durch eine staffelweise Verrückung der Grenzen von Ost nach West Gebietserweiterungen in Aussicht stellt. Eine Einigung der Balkanstaaten auf einer anderen Grundlage ist kaum denkbar, auf dieser Basis aber nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern auf bestem Wege, zur Tatsache zu werden.

Daß Serbien unter russischem Druck darauf eingehen würde, für den Eintritt Bulgariens in ein gegen die Monarchie gerichtetes, auf den Erwerb Bosniens und der angrenzenden Gebiete abzielendes Bündnis in Mazedonien einen angemessenen Preis zu bezahlen, ist wohl nicht zu bezweifeln.

Größer sind die Schwierigkeiten in Sofia.

Rußland hat Bulgarien Vorschläge auf der eben erwähnten Basis schon vor dem zweiten Balkankrieg gemacht und sie nach dem Bukarester Frieden wiederholt. Bulgarien, das offenbar von Vereinbarungen mit Serbien gründlich abgeschreckt war, hat es jedoch abgelehnt, auf die russischen Pläne einzugehen, und verfolgt seither eine Politik, welche auf alles eher als auf eine friedliche Verständigung mit Serbien unter der Ägide Rußlands abzielt. Man hat in St. Petersburg das Spiel aber keineswegs verlorengegeben. Im Innern des Landes arbeiten russische Agenten am Sturze des heutigen Regimes, und gleichzeitig ist die Zweibund-Diplomatie eifrig bemüht, eine völlige Isolierung Bulgariens herbeizuführen, um es hierdurch den russischen Angeboten zugänglich zu machen.

Da Bulgarien nach dem Friedensschlusse bei der Türkei Anlehnung gesucht und gefunden, und da sich bei der Pforte andererseits die Neigung gezeigt hatte, ein Bündnis mit Bulgarien einzugehen und sich dem Dreibunde zu nähern, so ist russisch-französischer Einfluß seit einiger Zeit am Bosporus eifrig am Werk, um dieser Politik der Türkei entgegenzuarbeiten, letztere zum Zweibund hinüberzuziehen und auf diese Art Bulgarien entweder durch völlige Isolierung oder durch Einwirkung der Türkei zu einer neuen Orientierung zu veranlassen. Meldungen aus Konstantinopel, die durch die Reise Talaat Beys nach Livadia eine gewisse Bestätigung erfahren haben, bestätigen, daß diese Bemühungen, wenigstens was die Türkei betrifft, nicht ohne Erfolg geblieben sind. Es ist Rußland gelungen, durch den Hinweis auf die angeblichen, den kleinasiatischen Besitzstand bedrohenden Aufteilungspläne anderer Mächte das historische Mißtrauen der Türkei von sich abzulenken und mit wirksamer Unterstützung Frankreichs, das die Finanznot der Türkei auszunutzen verstand, zu erreichen, daß anstatt eines Zusammengehens mit dem Dreibund der Gedanke einer Annäherung an die andere Mächtegruppe von den türkischen Staatsmännern in ernste Erwägung gezogen wird.

Auf die Tätigkeit der russischen und französischen Diplomatie ist auch die Reise Talaat Beys nach Bukarest zurückzuführen, durch welche eine rumänische Vermittlung in der Inselfrage herbeigeführt, gleichzeitig aber auch durch die Anbahnung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Konstantinopel und Bukarest die Einkreisung Bulgariens gefördert werden sollte.

Einstweilen hat sich eine Wirkung dieser Einkreisungsbestrebungen auf die bulgarische Politik noch nicht gezeigt, vielleicht deshalb, well man in Sofia noch keinen Anlaß hatte, gegen die Absichten der Türkei mißtrauisch zu werden. Jedenfalls ist aber die Erwartung Rußlands vollkommen gerechtfertigt, daß eine völlige Isolierung am Balkan wie in Europa Bulgarien schließlich nötigen würde, seine bisherige Politik aufzugeben und auf die Bedingungen einzugehen, die ihm Rußland für die Wiederaufnahme in seinen Schutz und Schirm auferlegen würde.

Mazedonien spielt in der inneren und äußeren Politik Bulgariens eine proeminente [sic] Rolle. Wenn es sich für die dortigen Machthaber herausstellen sollte, daß der von Rußland proponierte friedliche Ausgleich und das Bündnis mit Serbien der   e i n z i g e   Weg ist, wenigstens Teile Mazedoniens für die bulgarische Sache zu retten, wird trotz der erlittenen Enttäuschungen keine bulgarische Regierung es wagen können, diese Kombinationen zurückzuweisen. Nur eine Aktion, die Bulgarien den russischen Drohungen und Lockungen gegenüber das Rückgrat stärkt und das Land vor Isolierung bewahrt, könnte verhindern, daß Bulgarien schließlich auf die Balkanbundpläne eingeht.

Was nun Rumänien anbelangt, so hatte dort die russisch-französische Aktion schon während der Balkankrise mit voller Intensität eingesetzt, sie hatte die öffentliche Meinung durch erstaunliche Verdrehungskünste und durch geschickte Anfachung der unter der Oberfläche stets fortglimmenden großrumänischen Idee in eine feindselige Stimmung gegen die Monarchie hineingetrieben und die auswärtige Politik Rumäniens zu einer mit seinen Bundespflichten gegenüber Österreich-Ungarn kaum in Einklang stehenden militärischen Kooperation mit Serbien veranlaßt.

Diese Aktion ist seither keineswegs zum Stillstand gekommen, sie wurde und wird vielmehr mit allem Nachdruck und mit so eindrucksvollen und demonstrativen Mitteln, wie dem Besuche des Zaren am rumänischen Hofe, fortgesetzt.

Parallel damit vollzog sich ein immer tiefer gehender Umschwung in der rumänischen öffentlichen Meinung, und es kann heute nicht daran gezweifelt werden, daß weite Kreise der Armee, der Intelligenz und des Volkes für eine neue Orientierung Rumäniens gewonnen sind, für eine Politik des Anschlusses an Rußland, die sich »Befreiung der Brüder jenseits der Karpathen« zum Ziele zu setzen hatte. Es ist klar, daß damit das Terrain fur den Eintritt Rumäniens in einen etwaigen künftigen Balkanbund in der wirksamsten Weise vorbereitet ist.

Das offizielle Rumänien hat bisher dem Einflusse dieser populären Strömungen und den russisch-französischen Werbungen so weit widerstanden, daß von einem   o f f e n e n   Übergang ins Lager des Zweibundes und von einer ausgesprochenen Politik gegen Österreich-Ungarn derzeit noch nicht gesprochen werden kann. Es ist aber unleugbar, daß in der auswärtigen Politik Rumäniens eine bedeutsame Schwenkung eingetreten ist, die -- ganz abgesehen von allen Perspektiven auf eine künftige, in gleicher Richtung fortschreitende Entwicklung -- schon jetzt auf die politische und militärische Situation Österreich-Ungarns, ja des ganzen Dreibundes, in beträchtlichem Maße zurückwirkt.

Während nämlich früher, trotz der Geheimhaltung des Allianzverhältnisses, kein positiver Anhaltspunkt vorlag, an der Erfüllung der aus dem Akkord mit den Dreibundmächten entspringenden Verpflichtungen durch Rumänien zu zweifeln, haben kompetente rumänische Stellen in letzter Zeit mehrfach die öffentliche Erklärung abgegeben -- wogegen die Dreibundmächte infolge der Geheimhaltungsklausel des Bündnisvertrages keine Rekriminationen erheben konnten --, daß der leitende Gedanke der rumänischen Politik das Prinzip der freien Hand sei. Ebenso hat König Carol mit der Offenheit, die seiner vornehmen Gesinnung entspricht, dem k. u. k. Gesandten erklärt, solange er lebe, werde sein Streben zwar dahin gehen, daß die rumänische Armee gegen Österreich-Ungarn nicht ins Feld ziehe, allein gegen die öffentliche Meinung des heutigen Rumänien könne er nicht Politik machen, und es sei daher im Falle eines Angriffes Rußlands gegen die Monarchie trotz des bestehenden Bündnisses an eine Aktion Rumäniens an der Seite Österreich-Ungarns nicht zu denken. Um einen Schritt weiter ist -- bezeichnenderweise unmittelbar nach dem Zarenbesuche in Constantza -- der rumänische Minister des Äußern gegangen, indem er in einem Interview unverblümt zugab, daß eine Annäherung Rumäniens an Rußland erfolgt sei, und daß eine Interessengemeinschaft zwischen den beiden Staaten bestehe.

Das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Rumänien ist somit gegenwärtig dadurch charakterisiert, daß die Monarchie ganz auf dem Boden des Bündnisses steht und nach wie vor bereit ist, Rumänien, wenn der Casus foederis eintreten sollte, mit ganzer Macht zu unterstützen, daß Rumänien aber sich von den Bündnispflichten einseitig lossagt und der Monarchie lediglich eine neutrale Haltung in Aussicht stellt. Selbst die bloße Neutralität Rumäniens ist der Monarchie nur durch eine persönliche Zusage König Carols garantiert, die natürlich lediglich für die Dauer seiner Regierung von Wert ist, deren Einhaltung aber überdies davon abhängt, daß der König die Leitung der auswärtigen Politik stets vollkommen in der Hand behalf. Daß dies in Zeiten nationaler Erregung des ganzen Landes die Kraft des Monarchen übersteigen könnte, kann um so weniger negiert werden, als König Carol sich heute schon auf die Volksstimmung beruft, um die Unmöglichkeit der vollen Erfüllung der Bundespflichten seitens Rumäniens zu begründen. Es darf schließlich auch nicht übersehen werden, daß Rumänien schon heute mit dem erbittertsten Gegner der Monarchie am Balkan, mit Serbien, durch Bande der Freundschaft und Interessengemeinschaft verknüpft ist.

Die Monarchie hat sich bisher darauf beschränkt, die Schwenkung der rumänischen Politik in Bukarest in freundschaftlicher Weise zur Sprache zu bringen, sich im übrigen aber nicht veranlaßt gesehen, aus dieser immer deutlicheren Kursänderung Rumäniens ernste Konsequenzen zu ziehen; das Wiener Kabinett hat sich hierzu in erster Linie dadurch bestimmen lassen, daß die deutsche Regierung die Auffassung vertrat, es handle sich um vorübergehende Schwankungen, Folgeerscheinungen gewisser Mißverständnisse aus der Zeit der Krise, die sich automatisch zurückbilden würden, wenn man ihnen gegenüber Ruhe und Geduld bewahrt. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Taktik ruhigen Abwartens und freundschaftlicher Vorstellungen nicht die gewünschte Wirkung hatte, daß sich der Prozeß der Entfremdung zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien nicht zurückgebildet, sondern im Gegenteil beschleunigt hat. Daß von dieser Taktik auch für die Zukunft eine Wendung im günstigen Sinne nicht zu erwarten ist, dafür spricht schon der Umstand, daß die gegenwärtige Situation der »freien Hand« für Rumänien durchaus vorteilhaft und nur für die Monarchie nachteilig ist.

Es drängt sich nun die Frage auf, ob Österreich-Ungarn das Verhältnis zu Rumänien noch durch eine offene Auseinandersetzung sanieren könnte, indem es das Königreich vor die Wahl stellt, entweder alle Brücken zum Dreibund abzubrechen oder -- etwa durch Bekanntmachung seiner Zugehörigkeit zum Dreibunde -- ausreichende Burgschaften dafür zu geben, daß die aus der Allianz entspringenden Verpflichtungen auch von seiner Seite voll und ganz erfüllt werden würden. Eine solche Lösung der Frage, die eine dreißigjährige Tradition wieder aufleben ließe, würde sicherlich den Wunsch Österreich-Ungarns am meisten entsprechen. Unter den gegebenen Verhältnissen ist es aber leider wenig wahrscheinlich, daß sich König Carol oder irgendeine rumänische Regierung selbst gegen eine eventuelle Erweiterung des gegenwärtigen Bündnisvertrages, dazu bereit finden würde, der herrschenden Volksstimmung zum Trotz Rumänien öffentlich als Bundesgenossen des Dreibundes hinzustellen. Ein kategorisches aut-aut seitens der Monarchie könnte daher zum offenen Bruch führen. Ob es dem deutschen Kabinett durch ernste und nachdrückliche Vorstellungen, eventuell verbunden mit einem Anerbieten im obigen Sinne, gelingen würde, Rumänien zu einer Stellungnahme zu veranlassen, die als eine verläßliche Garantie für seine dauernde und volle Bundestreue angesehen werden könnte, läßt sich von Wien aus nicht leicht beurteilen, erscheint aber wohl gleichfalls als zweifelhaft.

Unter diesen Umständen kann die Möglichkeit praktisch als ausgeschlossen gelten, das Bündnis mit Rumänien wieder so verläßlich und tragfähig zu gestalten, daß es für Österreich-Ungarn das Pivot seiner Balkanpolitik bilden könnte.

Es wäre nicht nur zwecklos, sondern bei der politischen und militärischen Bedeutung Rumäniens eine nicht zu verantwortende Sorglosigkeit, die wichtige Interessen der Reichsverteidigung aufs Spiel setzen würde, wenn sich die Monarchie gegenüber den in Rumänien zutage getretenen Erscheinungen weiterhin mehr oder weniger passiv verhalten und nicht ohne Aufschub die erforderlichen militärischen Vorbereitungen und politischen Aktionen einleiten würde, um die Wirkungen der Neutralität und eventuellen Feindseligkeiten Rumäniens aufzuheben oder wenigstens abzuschwächen.

Der militärische Wert des Bündnisses mit Rumänien bestand für die Monarchie darin, daß sie im Konfliktsfalle mit Rußland gegen dieses von der rumänischen Seite her militärisch völlig freie Hand gehabt hätte, wahrend ein ansehnlicher Teil der russischen Heeresmacht durch den Angriff der flankierenden rumänischen Armee gebunden worden wäre. Das heutige Verhältnis Rumäniens zur Monarchie hätte jedoch, würde jetzt zwischen ihr und Rußland ein bewaffneter Konflikt ausbrechen, so ziemlich das Gegenteil zur Folge. Rußland hätte nun auf keinen Fall einen Angriff Rumäniens zu befürchten und würde gegen Rumänien kaum einen Mann aufstellen müssen, wahrend Österreich-Ungarn der rumänischen Neutralität nicht ganz sicher und deshalb gezwungen wäre, ein entsprechendes Aufgebot an Treppen [sic] gegen das jetzt   a n   s e i n e r   Flanke befindliche Rumänien zurückzubehalten.

Die bisherigen militärischen Vorkehrungen Österreich-Ungarns für den Fall eines Konfliktes mit Rußland basierten auf der Voraussetzung der Kooperation Rumäniens. Ist diese Voraussetzung hinfällig, ja nicht einmal eine absolute Sicherheit vor einer rumänischen Aggression gegeben, so muß die Monarchie für den Kriegsfall andere Dispositionen treffen und auch die Anlage von Befestigungen gegen Rumänien in Betracht ziehen.

Politisch handelt es sich darum, Rumänien durch Taten zu beweisen, daß wir in der Lage sind, für die Balkanpolitik Österreich-Ungarns einen anderen Stutzpunkt zu schaffen. Sachlich und zeitlich deckt sich die zu diesem Zweck einzuleitende Aktion mit der Notwendigkeit, gegen die von den Zweibundmächten betriebene Errichtung eines neuen Balkanbundes wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Das eine wie das andere kann bei der heutigen Lage am Balkan nur dadurch erreicht werden, daß die Monarchie auf die schon vor einem Jahre gestellten und seither mehrfach wiederholten Anerbieten Bulgariens eingeht und mit diesem in ein vertragsmäßiges Verhältnis tritt. Gleichzeitig müßte die Politik der Monarchie danach trachten, ein Bündnis zwischen Bulgarien und der Türkei zustande zu bringen, wofür in beiden Staaten bis vor kurzem noch so günstige Dispositionen herrschten, daß ein Vertragsinstrument, wenn es auch später nicht unterzeichnet wurde, bereits ausgearbeitet war. Auch in dieser Hinsicht könnte eine Fortsetzung der bisherigen abwartenden Haltung, zu welcher sich die Monarchie durch eine viel weitergehende Rücksichtnahme auf das Bündnis, als sie in Bukarest an den Tag gelegt wurde, bestimmen ließ, von nicht wieder gut zu machendem schweren Nachteil sein. Weiteres Zuwarten und namentlich das Unterbleiben einer Gegenaktion in Sofia würde den intensiven und planmäßigen Bestrebungen Rußlands und Frankreichs vollkommen freies Spiel lassen. Die Haltung Rumäniens drängt die Monarchie geradezu mit Notwendigkeit dahin, Bulgarien jene Anlehnung, die es seit langem sucht, zu gewähren, um den sonst kaum abzuwendenden Erfolg der russischen Einkreisungspolitik zu vereiteln. Diese müßte aber eben geschehen, solange der Weg nach Sofia und auch nach Konstantinopel noch offen steht.

Der Vertrag mit Bulgarien, dessen nähere Bestimmungen noch eingehender zu prüfen sein werden, wird im allgemeinen natürlich so abzufassen sein, daß er die Monarchie nicht in Widerstreit mit ihren vertragsmäßigen Verpflichtungen Rumänien gegenüber zu bringen vermag. Auch wäre dieser Schritt der Monarchie vor letzterem nicht geheimzuhalten, da ja darin keine Feindseligkeit gegen Rumänien gelegen ist, wohl aber eine ernste Warnung, durch die sich die maßgebenden Faktoren in Bukarest der ganzen Tragweite einer dauernden einseitigen politischen Abhängigkeit von Rußland bewußt werden könnten.

Bevor Österreich-Ungarn aber an die in Rede stehende Aktion herantritt, legt es den größten Wert darauf, mit dem Deutschen Reiche ein volles Einvernehmen herzustellen, und zwar nicht nur aus Rücksichten, die der Tradition und dem engen Bundesverhältnis entspringen, sondern vor allem deshalb, weil wichtige Interessen Deutschlands und des Dreibundes überhaupt hier mit im Spiele sind, und weil eine erfolgreiche Wahrung dieser in letzter Konsequenz   g e m e i n s a m e n   Interessen nur zu erwarten ist, wenn der einheitlichen Aktion Rußlands und Frankreichs eine ebenso einheitliche Gegenaktion des Dreibundes, insbesondere Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches, entgegengesetzt wird.

Denn wenn Rußland, von Frankreich unterstützt, die Balkanstaaten gegen Österreich-Ungarn zu vereinigen trachtet, wenn es die bereits erreichte Trübung des Verhältnisses zu Rumänien zu vertiefen bestrebt ist, so richtet sich diese Feindseligkeit nicht allein gegen die Monarchie als solche, sondern nicht zuletzt gegen den Bundesgenossen des Deutschen Reiches, gegen den durch seine geographische Lage und innere Struktur exponiertesten, Angriffen am meisten zugänglichen Teil des zentraleuropäischen Blocks, der Rußland den Weg zur Verwirklichung seiner weltpolitischen Pläne sperrt.

Die militärische Superiorität der beiden Kaisermächte durch Hilfstruppen vom Balkan her zu brechen, ist das Ziel des Zweibundes, aber nicht das letzte Ziel Rußlands.

Während Frankreich die Schwächung der Monarchie anstrebt, weil es hiervon eine Förderung seiner Revanchebestrebungen erwartet, sind die Absichten des Zarenreiches noch weit umfassender.

Wenn man die Entwicklung Rußlands in den letzten zwei Jahrhunderten, die stetige Erweiterung seines Gebietes, das enorme, alle anderen europäischen Großmächte weit uberflügelnde Anwachsen seiner Volkszahl und die gewaltigen Fortschritte seiner wirtschaftlichen Ressourcen und militärischen Machtmittel überblickt und bedenkt, daß dieses große Reich durch seine Lage und durch Verträge vom freien Meer noch immer so gut wie abgeschnitten ist, dann begreift man die Notwendigkeit des der russischen Politik seit jeher immanenten aggressiven Charakters.

Man kann Rußland vernünftigerweise territoriale Eroberungspläne gegen das Deutsche Reich nicht zumuten; trotzdem sind die außergewöhnlichen Rüstungen und kriegerischen Vorbereitungen, der Ausbau strategischer Bahnen gegen Westen usw. in Rußland sicherlich mehr noch gegen Deutschland als gegen Österreich-Ungarn gerichtet.

Denn Rußland hat erkannt, daß die Verwirklichung seiner, einer inneren Notwendigkeit entspringenden Pläne in Europa und Asien in erster Linie höchst wichtige Interessen Deutschlands verletzen und daher auf dessen unausweichlichen Widerstand stoßen müßte.

Die Politik Rußlands ist durch unveränderliche Verhältnisse bedingt und deshalb eine stetige und weitausblickende.

Die manifesten Einkreisungstendenzen Rußlands gegen die Monarchie, die keine Weltpolitik treibt, haben den Endzweck, dem Deutschen Reiche den Widerstand gegen jene letzten Ziele Rußlands und gegen seine politische und wirtschaftliche Suprematie unmöglich zu machen.

Aus diesen Gründen ist die Leitung der auswärtigen Politik Österreich-Ungarns auch davon überzeugt, daß es ein gemeinsames Interesse der Monarchie wie nicht minder Deutschlands ist, im jetzigen Stadium der Balkankrise rechtzeitig und energisch einer von Rußland planmäßig angestrebten und geförderten Entwicklung entgegenzutreten, die später vielleicht nicht mehr rückgängig zu machen wäre.

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Die vorliegende Denkschrift war eben fertiggestellt, als die furchtbaren Ereignisse von Sarajevo eintraten.

Die ganze Tragweite der ruchlosen Mordtat läßt sich heute kaum überblicken. Jedenfalls ist aber, wenn es dessen noch bedurft hat, hierdurch der unzweifelhafte Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Monarchie und Serbien sowie für die Gefährlichkeit und Intensität der vor nichts zurückschreckenden großserbischen Bestrebungen erbracht worden.

Österreich-Ungarn hat es an guten Willen und Entgegenkommen nicht fehlen lassen, um ein erträgliches Verhältnis zu Serbien herbeizuführen. Es hat sich aber neuerlich gezeigt, daß diese Bemühungen ganz vergeblich waren, und daß die Monarchie auch in Zukunft mit der hartnäckigen, unversöhnlichen und aggressiven Feindschaft Serbiens zu rechnen haben wird.

Um so gebieterischer tritt an die Monarchie die Notwendigkeit heran, mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu einem Netze über ihrem Haupte verdichten wollen.



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