Nr. 100. Der Reichskanzler an die Botschafter in Petersburg, Paris und London, 21. und 22. Juli 1914

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Nr. 100
Der Reichskanzler an die Botschafter in Petersburg, Paris und London1


                                                  Berlin, den 21. Juli 19142

     Die Veröffentlichungen der österreichisch-ungarischen Re-
gierung über die Umstände, unter denen das Attentat auf den
österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin stattgefunden
hat, enthüllen offen die Ziele, die sich die großserbische Propa-
ganda gesetzt hat, und die Mittel, deren sie sich zur Verwirk-
lichung derselben bedient. Auch müssen durch die bekannt-
gegebenen Tatsachen die letzten Zweifel darüber schwinden, daß
das Aktionszentrum der Bestrebungen, die auf Loslösung der süd-
slawischen Provinzen von der österreichisch-ungarischen Monar-
chie und deren Vereinigung mit dem serbischen Königreich hinaus-
laufen, in Belgrad zu suchen ist, und dort zum mindesten mit der
Konnivenz von Angehörigen der Regierung und Armee seine Tätig-
keit entfaltet.
     Die serbischen Treibereien gehen auf eine lange Reihe von
Jahren zurück. In besonders markanter Form trat der groß-
serbische Chauvinismus während der bosnischen Krisis in die Er-
scheinung. Nur der weitgehenden Selbstbeherrschung und Mäßi-
gung der österreichisch-ungarischen Regierung und dem energischen
Einschreiten der Großmächte war es zuzuschreiben, wenn die
Provokationen, welchen Österreich-Ungarn in dieser Zeit von selten
Serbiens ausgesetzt war, nicht zum Konflikt führten. Die Zusiche-
rung künftigen Wohlverhaltens, die die serbische Regierung damals
gegeben hat, hat sie nicht eingehalten. Unter den Augen, zum
mindesten unter stillschweigender Duldung des amtlichen Serbiens,
hat die großserbische Propaganda inzwischen fortgesetzt an Aus-
dehnung und Intensität zugenommen; auf ihr Konto ist das jüngste
Verbrechen zu setzen, dessen Fäden nach Belgrad führen. Es hat
sich in unzweideutiger Weise kundgetan, daß es weder mit der
Würde noch mit der Selbsterhaltung der österreichisch-ungarischen
Monarchie vereinbar sein würde, dem Treiben jenseits der Grenze
noch länger tatenlos zuzusehen, durch das die Sicherheit und Integri-
tät ihrer Gebiete dauernd bedroht wird. Bei dieser Sachlage
können das Vorgehen sowie die Forderungen der österreichisch-
ungarischen Regierung nur als billig und maßvoll angesehen werden.
Trotzdem schließt die Haltung, die die öffentliche Meinung sowohl
als auch die Regierung in Serbien in letzter Zeit eingenommen hat,
die Befürchtung nicht aus4, daß die serbische Regierung es ablehnen
wird, diesen Forderungen zu entsprechen, und daß sie sich zu einer
provokatorischen Haltung Österreich-Ungarn gegenüber hinreißen
läßt. Es würde der österreichisch-ungarischen Regierung, will sie
nicht auf ihre Stellung als Großmacht endgültig Verzicht leisten,
alsdann nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forderungen bei der
serbischen Regierung durch einen starken Druck und nötigenfalls
unter der Ergreifung militärischer Maßnahmen durchzusetzen,
wobei ihr die Wahl der Mittel überlassen bleiben muß.
     Ew. pp. beehre ich mich zu ersuchen, sich in vorstehendem
Sinne Herrn Sasonow4 gegenüber auszusprechen und dabei ins-
besondere der Anschauung nachdrücklich Ausdruck zu verleihen, daß
es sich in der vorliegenden Frage um eine lediglich zwischen Öster-
reich-Ungarn und Serbien zum Austrag zu bringende Angelegen-
heit handele, die auf die beiden direkt Beteiligten zu beschränken
das ernste Bestreben der Mächte sein müsse. Wir wünschen drin-
gend die Lokalisierung des Konflikts, weil jedes Eingreifen einer
anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen
unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde.
     Ew. pp. wollen Herrn Sasonow ferner auf die ernsten Folgen
aufmerksam machen, die es für den monarchischen Gedanken haben
müßte, wenn sich im vorliegenden Falle die monarchischen Mächte
unter Hintansetzung etwaiger nationaler Sympathien und politischer
Gesichtspunkte nicht geschlossen auf die Seite Österreich-Ungarns
stellen sollten, da es gilt, dem vor Verbrechen auch an Angehörigen
des eigenen Herrscherhauses nicht zurückschreckenden politischen
Radikalismus, der in Serbien die Zügel führt, einen vernichtenden
Streich zu versetzen. An dieser Aufgabe ist Rußland in gleichem
Maße wie Deutschland interessiert. Ich gebe mich der Hoffnung
hin, daß Herr Sasonow sich dieser Tatsache nicht verschließen wird.
     Einem gefälligen telegraphischen Bericht über den Verlauf
Ihrer Unterredung werde ich mit Interesse entgegensehen5.

                                                  v.   B e t h m a n n   H o l l w e g


1 Runderlaß des Reichskanzlers, gezeichnet von v. Jagow, an die Botschafter
in Paris, London und Petersburg. Nach dem Konzept. In Maschinen-
schrift vorliegender Entwurf zuerst von Stumm paraphiert, mit einer formalen
Ergänzung von der Hand des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
Wirklichen Legationsrats Frhn. Langwerth von Simmern und Änderungen
des Reichskanzlers. Der Abschnitt »Ew. Exz. wollen Herrn Sasonow
verschließen wird« ging nur dem Botschafter in Petersburg zu. Dieser
Abschnitt fehlt auch in dem Abdruck des Runderlasses im deutschen
Weißbuch vom Mai 1915 S. 24, Nr. 1, wo der Erlaß vom 23. Juli datiert ist.
2 Nach Petersburg am 21. Juli, nach Paris und London am 22. Juli abge-
gangen.
3 »schließt . . . . . . . . . die Befürchtung nicht aus« ist vom Kanzler aus »läßt
befürchten« des Entwurfs geändert.
4 Im Erlaß an Lichnowsky: »Sir E. Grey« im Erlaß an Schoen: »dem der-
zeitigen Vertreter des Herrn Viviani«.
5 Siehe Nr. 154, 157, 160.