Nr. 129. Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt, 23. Juli 1914

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Nr. 129
Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt1


Telegramm 147                          London, den 23. Juh 19142

     Der ehemalige rumänische Minister Take Jonescu, der augen-
blicklich hier weilt und mir von meiner Bukarester Zeit her bekannt
ist, erzählte mir, Herr Sasonow habe dem König Karl bei seinem
kürzlichen Besuch die bündigsten Erklärungen hinsichtlich der
russischen Friedensliebe abgegeben. Auch habe der russische Minister
sich jeder Anregung hinsichtlich eines engeren Einvernehmens mit
Rumänien enthalten. Herr Sasonow habe aber in bestimmter Form
erklärt, daß Rußland einen Angriff Österreichs auf Serbien nicht
dulden könne. Herr Take Jonescu meint, daß Rußland, falls Öster-
reich serbisches Gebiet betrete, sich genötigt sehen weide, selbst
auf die Gefahr einer Niederlage hin, militärisch einzugreifen. Aus
Äußerungen des kürzlich, und zwar vor dem Attentat in Sarajevo
in Bukarest gewesenen Botschafters Markgrafen Pallavicini will der
rumäniscle Staatsmann entnommen haben, daß Österreich schon
vor der Ermordung den Krieg gewünscht und auf eine passende
Gelegenheit gewartet habe, um seine durch die Politik des Grafen
Berchtold verlorengegangene Stellung auf dem Balkan wiederlier-
zustellen. Auch er betrachtet die Lage als überaus ernst und gab
mir zu verstehen, daß Rumänien bei einem neuen Balkankriege
nicht gleichgültig bleiben könne und den Bukarester Frieden erhalten
wissen wolle.
     Das Verhältnis zu Österreich bezeichnete Herr Take Jonescu
als schlecht, der russische Besuch sei dem König Carol3 daher unge-
legen gekommen, er habe ihn aber nicht abweisen können.
     Noch vor 14 Tagen sei Rumänien bereit gewesen, eine größere
Truppenmacht nach Albanien zu senden, falls jede der Großmächte
auch nur 100 Mann hinschicken wollte. Ob diese Bereitwilligkeit
heute noch bestehe, könne er mir nicht sagen. Er glaube nicht,
daß die aufständische Bewegung in Albanien von serbischer oder
griechischer Seite genährt werde, sie sei vielmehr von den Jungtürken
ausgegangen, die glaubten, daß bei neuen Verwicklungen wieder
etwas für sie abfallen könne. Serbien wisse genau, daß man es
nicht nach Nordalbanien lassen werde, und ihm sei der Fürst Wilhelm
lieber wie eine österreichisch-italienische Besetzung.

                                                            L i c h n o w s k y


1 Nach der Entzifferung.
2 Aufgegeben in London 120 nachm., angekommen im Auswärtigen Amt
440 nachm.; Eingangsvermerk: 23. Juli nachm.
3 Entzifferung schreibt zuerst »Karl«, dann »Carol«.