Nr. 20. Der Botschafter in London an den Reichskanzler, 9. Juli 1914

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Nr. 20
Der Botschafter in London an den Reichskanzler1


Geheim!                                     London, den 6. Juli 19142

     Ich besuchte heute nachmittag Sir Edward Grey und nahm
dabei Gelegenheit, die gesamte europäische Lage mit ihm in ver-
traulichem Tone zu besprechen.
     Zunächst glaubte ich ihn darauf hinweisen zu sollen, daß die
österreichisch-ungarisch-serbischen Beziehungen durch die Ermordung
des Thronfolgers eine nicht unbedenkliche Zuspitzung erhalten hätten.
Man könne es der k. u. k. Regierung nicht verübeln, wenn sie diese
neue Herausforderung angesichts der Unterstützung, die die Ver-
schwörer erwiesenermaßen aus Belgrad erhalten hätten, nicht unge-
sühnt lassen und von der serbischen Regierung Genugtuung verlangen
würde. Ob und in welcher Form dies geschehe, sei mir zwar nicht
bekannt, aber ich glaubte, daß es sich schon jetzt empfehlen würde,
die Möglichkeit einer Verschärfung der Beziehungen zwischen Wien
und Belgrad ins Auge zu fassen, damit er, Sir Edward, rechtzeitig
in der Lage sei, seinen Einfluß in Petersburg dahin geltend zu machen,
daß von dort auf Serbien im Sinne der Nachgiebigkeit gegenüber
den österreichischen Forderungen gewirkt würde.
     Sir Edward schien in dieser Richtung noch keinerlei Nachrichten
erhalten zu haben. Er verkannte jedoch nicht die Gefahr, die die
Lage mit sich bringen könnte, und schien zu begreifen, daß es für
einen leitenden österreichisch-ungarischen Staatsmann schwer sei, sich
auf die Dauer aller energischeren Maßnahmen zu enthalten. Er
versprach mir, auch über diese Frage mit uns in Fühlung zu bleiben,
enthielt sich aber vorläufig einer bestimmteren Meinungsäußerung.
     Sodann erwähnte ich unter Bezugnahme auf unsere letzte Unter-
haltung3, daß die gewaltigen Rüstungen Rußlands und gewisse
andere Anzeichen, wie der Bau strategischer Bahnen, nach meinen
letzten persönlichen Eindrücken in Berlin nicht verfehlt hätten, dort
ein gewisses Unbehagen hervorzurufen. Die Stimmung Rußlands
für uns und Österreich-Ungarn sei zweifellos keine freundliche.
Diese Tatsachen, verbunden mit dem bosnischen Frevel, hätten bei
uns eine etwas pessimistische Auffassung der auswärtigen Lage ge-
zeitigt. Da wir aber überzeugt wären, daß wir uns mit der britischen
Politik in dem Wunsche begegneten, den Frieden zu erhalten und
die Gruppen einander zu nähern, so glaubte ich, durch eine Aus-
sprache mit ihm den beiderseitigen Zwecken zu dienen.
     Sir Edward wiederholte mir ungefähr dasselbe, was er mir erst
kürzlich gesagt hatte, nämlich, daß ihm keine Anzeichen einer deutsch-
feindlichen Stimmung in St. Petersburg bekannt seien. Noch weniger
glaube er an kriegerische Absichten Rußlands, er wolle aber der
Frage erneut seine Aufmerksamkeit zuwenden und mit mir gelegentlich
darauf zurückkommen, da auch er den Wunsch hege, über alle
Fragen der auswärtigen Politik mit uns in Fühlung zu bleiben.
     Zum Schlüsse sagte ich, er müsse mir gestatten, da ich ganz
offen mit ihm sein wolle und ich es für wichtig hielte, daß er über
unsere Auffassungen und Stimmungen genau unterrichtet sei, ein
etwas heikles Thema in vertraulicher Weise zu berühren. Wir
wüßten aus seinen Erklärungen, daß geheime Abmachungen politischer
Natur zwischen England und Rußland nicht bestünden. Wir hätten
selbstverständhch nicht den geringsten Anlaß, an der Richtigkeit
seiner Worte zu zweifeln, bedauerten aber um so mehr, daß immer
wieder Gerüchte auftauchten, welche von einer Flotten Verständigung
zu berichten wüßten, die ein beiderseitiges Zusammenwirken gegen
uns im Kriegsfalle bezwecke. Ich wäre nicht in der Lage, die
Richtigkeit dieser Gerüchte zu prüfen, könne mir aber wohl denken,
daß etwaige Besprechungen der beiderseitigen Seebehörden nicht in
den Rahmen politischer Abmachungen und bindender Verträge
fielen, und daß sie daher mit seinen Erklärungen zu vereinbaren
wären. In diesem Falle aber glaubte ich ihn darauf aufmerksam
machen zu müssen, daß derartige Verabredungen notwendigerweise
dazu beitragen würden, die in Rußland zweifellos bestehende natio-
nalistische Strömung zu bestärken und andererseits bei uns das Ver-
langen nach vermehrten Rüstungen zu fördern und der Regierung
es zu erschweren, den ihm bekannten, den Rahmen der gesetzlich
festgelegten Aufwendungen überschreitenden Forderungen entgegen-
zutreten.
     Sir Edward entgegnete, ohne auf die von mir berührte Frage
eines Flottenübereinkommens näher einzugehen, daß er mir bereits
vor kurzem gesagt habe, daß kein neues oder geheimes Überein-
kommen bestünde, daß aber die Beziehungen zu den Verbands-
genossen nichtsdestoweniger einen sehr intimen Charakter trügen.
Aus seiner Zurückhaltung und der Bemerkung, daß er mit mir
noch einmal auf die Angelegenheit zurückkommen wolle, konnte ich
entnehmen, daß er sich die ganze Frage reiflich überlegen will, ehe
er mir gegenüber zu meiner Anregung Stellung nimmt. Auf jeden
Fall hat er eine Fühlungnahme der beiden Marinen für den Fall
eines gemeinsamen Krieges nicht direkt in Abrede gestellt. Er
betonte aber auch bei dieser Gelegenheit wieder, daß sein Bestreben
dahin ginge, die beiden Gruppen einander näher zu bringen und
dadurch europäischen Verwickelungen vorzubeugen und eine Ver-
ständigung über alle auftauchenden Fragen zu erleichtern.
     Der Minister stand sichtlich unter dem Eindruck meiner Er-
öffnungen und dankte mir für die offene Aussprache, die sich in
gewohnter gemütlicher und freundschaftlicher Form vollzogen hatte.

                                                       L i c h n o w s k y


1 Nach der Ausfertigung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts: 9. Juli nachm.
3 Siehe Nr. 5.