Nr. 253. Der Botschafter in Petersburg an den Reichskanzler, 27. Juli 1914

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Nr. 253
Der Botschafter in Petersburg an den Reichskanzler1

                                        St. Petersburg, den 22. Juli 19142

     In einem vertraulichen Gespräch mit meinem italienischen
Kollegen, der mir von Beginn seiner hiesigen Tätigkeit an stets
sehr offen gegenübergetreten ist, brachte ich den Marquis Carlotti
vor kurzem auf die gewaltige Vermehrung der russischen Streit-
kräfte und frug ihn, ob er es für angezeigt gehalten habe, bezüglich
der Ziele, die Rußland bei seinen Rüstungen verfolge, seiner Re-
gierung gegenüber Besorgnisse zum Ausdruck zu bringen.
     Der Botschafter antwortete darauf, er habe über die Frage der
russischen Armeevermehrung seiner Regierung überhaupt keinen
ausführlichen Bericht geschickt, sondern sich darauf beschränkt,
die in der letzten Zeit bekannt gewordenen Ziffern der in Angriff
genommenen Armee- und Flotten-Vermehrung sowie der zu diesem
Zwecke von der Duma bewilligten Gelder telegraphisch zu melden.
Er habe dabei, ebenfalls an der Hand der bekannt gewordenen Zif-
fern, auch darauf hingewiesen, wie sich die Präsenzstärke der
russischen Armee in drei Jahren gestalten werde, wenn bis dahin
alle jetzt in Aussicht genommenen Maßregeln zur Durchführung
gelangt sein würden. Ausführlichere Kommentare habe er an diese
Meldung nicht geknüpft.
     Die dem k. Gesandten in Athen von seinem italienischen
Kollegen gemachten Mitteilungen über alarmistische Berichte
des Marquis Carlotti dürften meines gehorsamen Erachtens
auf obige Meldung des Botschafters zurückzuführen sein. Viel-
leicht waren die von Marquis Carlotti genannten Ziffern dem italie-
nischen Vertreter in Athen vorher nicht bekannt, und ist er durch
die Höhe derselben frappiert gewesen. In dem Umstände, daß
Marquis Carlotti über diesen Gegenstand einen telegraphischen Be-
richt erstattet hat, dürfte auch etwas Außergewöhnliches nicht zu
erblicken sein, da mein italienischer Kollege, wie er mir selbst sagt,
und wie es, soviel mir bekannt ist, im italienischen diplomatischen
Dienst sehr viel geschieht, seine Meldungen meist telegraphisch
schickt und nur ausnahmsweise schriftlich berichtet.
     Bezüglich seiner Ansichten über die russischen Rüstungen
sagte mir Marquis Carlotti, er glaube nicht, daß Rußland mit
irgendwelchen Plänen umginge, die dahin gerichtet wären, etwa in
drei Jahren einen Offensivkrieg zu führen. Dagegen gewinne nach
seiner Ansicht die Überzeugung hier immer mehr an Boden, daß
der nicht mehr aufzuhaltende Prozeß des weiteren Zerfalls der
Türkei sehr bald eine neue Orientkrisis herbeiführen werde. Für
den Eintritt dieser Eventualität wolle Rußland stark gerüstet sein,
um bei der bevorstehenden Regelung der durch eine solche Krisis
entstehenden Fragen ein stärkeres Gewicht als bisher in die Wag-
schale werfen zu können.
     Diese Ansicht meines italienischen Kollegen deckt sich voll-
kommen mit der meinigen. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß
ich allerdings nicht umhin kann, in der Verbindung der in der Tat
sehr bedeutenden Vermehrung der russischen Streitkräfte mit dem
sich immer mehr zuspitzenden russisch-österreichischen Gegensatz
eine nicht zu unterschätzende zunehmende Gefahr für den euro-
päischen Frieden zu erblicken.

                                                            F.   P o u r t a l e s


1 Nach der Ausfertigung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts: 27. Juli nachm