Nr. 349 Der Große Generalstab an den Reichskanzler, 29. Juli 1914

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Nr. 349
Der Große Gcneralstab an den Reichskanzler1


                                                  Berlin, den 29. Juli 19142
Zur Beurteilung der politischen Lage

     Es ist ohne Frage, daß kein Staat Europas dem Konflikt
zwischen Österreich und Serbien mit einem anderen als wie
menschlichen Interesse gegenüberstehen würde, wenn in ihn nicht
die Gefahr einer allgemeinen politischen Verwickelung hineinge-
tragen wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu entfesseln.
Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ursache einer europäischen
Spannung, die mit nachgerade unerträglich werdendem Druck auf
dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet. Mit
einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat Österreich bisher
die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staat-
lichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes er-
tragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im
Nachbarlande geschritten ist. Erst nach dem letzten scheußlichen
Verbrechen hat es zum äußersten Mittel gegriffen, um mit glühen-
dem Eisen ein Geschwür auszubrennen, das fortwährend den
Körper Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, daß ganz
Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz Europa würde auf-
geatmet haben, wenn sein Störenfried in gebührender Weise ge-
züchtigt und damit Ruhe und Ordnung auf dem Balkan hergestellt
worden wäre, aber Rußland stellte sich auf die Seite des verbreche-
rischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-serbische An-
gelegenheit zu der Wetterwolke, die sich jeden Augenblick über
Europa entladen kann.
     Österreich hat den europäischen Kabinetten erklärt, daß es
weder territoriale Erwerbungen auf Kosten Serbiens anstreben
noch den Bestand dieses Staates antasten wolle, es wolle den un-
ruhigen Nachbar nur zwingen, die Bedingungen anzunehmen, die es
für ein weiteres Nebeneinanderleben für nötig hält, und die Serbien,
wie die Erfahrung gezeigt hat, trotz feierlicher Versprechungen
ungezwungen niemals halten würde. Die österreichisch-serbische
Angelegenheit ist eine rein private Auseinandersetzung, für die,
wie gesagt, kein Mensch in Europa ein tiefergehendes Interesse
haben würde, das in keiner Weise den europäischen Frieden be-
drohen, sondern im Gegenteil ihn festigen würde, wenn nicht Ruß-
land sich eingemischt hätte. Das erst hat der Sache den bedroh-
lichen Charakter gegeben.
     Österreich hat nur einen Teil seiner Streitkräfte, acht Armee-
korps, gegen Serbien mobilisiert. Gerade genug, um seine Straf-
expedition durchführen zu können. Demgegenüber trifft Rußland
alle Vorbereitungen, um die Armeekorps der Militärbezirke Kiew
und Odessa und Moskau, in Summa zwölf Armeekorps, in kürzester
Zeit mobilisieren zu können und verfügt ähnliche vorbereitende
Maßnahmen auch im Norden, der deutschen Grenze gegenüber und
an der Ostsee. Es erklärt, mobilisieren zu wollen, wenn Österreich
in Serbien einrückt, da es eine Zertrümmerung Serbiens durch
Österreich nicht zugeben könne, obgleich Österreich erklärt hat, daß
es an eine solche nicht denke.
     Was wird und muß die weitere Folge sein? Österreich wird,
wenn es in Serbien einrückt, nicht nur der serbischen Armee, son-
dern auch einer starken russischen Überlegenheit gegenüberstehen,
es wird also den Krieg gegen Serbien nicht durchführen können,
ohne sich gegen ein russisches Eingreifen zu sichern. Das heißt,
es wird gezwungen sein, auch die andere Hälfte seines Heeres
mobil zu machen, denn es kann sich unmöglich auf Gnade und Un-
gnade einem kriegsbereiten Rußland ausliefern. Mit dem Augen-
blick aber, wo Österreich sein ganzes Heer mobil macht, wird der
Zusammenstoß zwischen ihm und Rußland unvermeidlich werden.
Das aber ist für Deutschland der casus foederis. Will Deutschland
nicht wortbrüchig werden und seinen Bundesgenossen der Ver-
nichtung durch die russische Übermacht verfallen lassen, so muß es
auch seinerseits mobil machen. Das wird auch die Mobilisierung
der übrigen Militärbezirke Rußlands zur Folge haben. Dann aber
wird Rußland sagen können, ich werde von Deutschland ange-
griffen, und damit wird es sich die Unterstützung Frankreichs
sichern, das vertragsmäßig verpflichtet ist, an dem Kriege teilzu-
nehmen, wenn sein Bundesgenosse Rußland angegriffen wird. Das
so oft als reines Defensivbündnis gepriesene französisch-russische
Abkommen, das nur geschaffen sein soll, um Angriffsplänen
Deutschlands begegnen zu können, ist damit wirksam geworden,
und die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten
wird beginnen.
     Man kann nicht leugnen, daß die Sache von Seiten Rußlands
geschickt inszeniert ist. Unter fortwährenden Versicherungen, daß
es noch nicht »mobil« mache, sondern nur »für alle Fälle« Vor-
bereitungen treffe, daß es »bisher« keine Reservisten einberufen
habe, macht es sich soweit kriegsbereit, daß es, wenn es die Mobil-
machung wirklich ausspricht, in wenigen Tagen zum Vormarsch
fertig sein kann. Damit bringt es Österreich in eine verzweifelte
Lage und schiebt ihm die Verantwortung zu, indem es doch Öster-
reich zwingt, sich gegen eine russische Überraschung zu sichern.
Es wird sagen: Du Österreich machst gegen uns mobil. Du willst
also den Krieg mit uns. Gegen Deutschland versichert Rußland,
nichts unternehmen zu wollen, es weiß aber ganz genau, daß
Deutschland einem kriegerischen Zusammenstoß zwischen seinem
Bundesgenossen und Rußland nicht untätig zusehen kann. Auch
Deutschland wird gezwungen werden, mobil zu machen, und wieder-
um wird Rußland der Welt gegenüber sagen können: »Ich habe den
Krieg nicht gewollt, aber Deutschland hat ihn herbeigeführt.« So
werden und müssen die Dinge sich entwickeln, wenn nicht, fast
möchte man sagen, ein Wunder geschieht, um noch in letzter
Stunde einen Krieg zu verhindern, der die Kultur fast des gesamten
Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten wird.
     Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht herbei-
führen. Die deutsche Regierung weiß aber, daß es die tiefge-
wurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten Züge deut-
schen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich
in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde,
wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe
kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden muß.
     Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch Frankreich
vorbereitende Maßnahmen für eine eventuelle spätere Mobilmachung
zu treffen. Es ist augenscheinlich, daß Rußland und Frankreich
in ihren Maßnahmen Hand in Hand gehen.
     Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoß zwischen
Österreich und Rußland unvermeidlich ist. mobil machen und bereit
sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzunehmen.
     Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen
Maßnahmen ist es von größter Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit
darüber zu erhalten, ob Rußland und Frankreich gewillt sind, es
auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter
die Vorbereitungen unserer Nachbarn fortschreiten, um so schneller
werden sie ihre Mobilmachung beendigen können. Die militärische
Lage wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann,
wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe
vorbereiten, zu verhängnisvollen Folgen für uns führen.


1Randvermerk des Reichskanzlers : » Vom Generalstab übergeben v. B. H. 29.« 
2Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts: 29. Juli.