Nr. 357 Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt, 29. Juli 1914

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Nr. 357
Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt1


Telegramm 174                          London, den 29. Juli 19142

     Habe soeben mit Sir E. Grey gesprochen, der die Lage überaus
ernst beurteilt. Den unangenehmsten Eindruck hat auf ihn ein
gestriges Telegramm Sir Maurice de Bunsens gemacht, wonach Graf
Berchtold Vorschlag Sasonows, Graf Szápáry zu ermächtigen, mit
ihm in Besprechungen des serbisch-österreichischen Streits einzu-
gehen, unbedingt abgelehnt habe. Minister betrachtet auch heutigen
direkten Gedankenaustausch zwischen Wien und Petersburg für den
gangbarsten Weg, fragte mich aber, was geschehen soll, wenn, wie
es nach dem Wiener Telegramm den Anschein habe, die Besprechun-
gen zusammenbrechen. Ob wir alsdann in der Lage seien, irgend-
einen Vorschlag zu machen? Er habe die Konferenz der hiesigen
Botschafter angeregt, die uns nicht als gangbar erscheine, wir hätten
die Vermittlung zu vieren aber angenommen, und er würde froh
sein, wenn wir in der Lage wären, irgendeinen Vorschlag zu machen.
Ich sagte, wir betrachteten den österreichisch-serbischen Zwist als
eine Angelegenheit, in die wir uns nicht hineinmischen wollten, wir
könnten auch Österreich keine Demütigungen zumuten. Österreich
tue nur das, was es tun müsse, um an seiner Grenze Ruhe und Ord-
nung zu schaffen. Das sei auch gleichzeitig ein Interesse des euro-
päischen Friedens. Auch beabsichtige Österreich keinen territorialen
Erwerb, sondern nur die Herstellung erträglichen Zustandes.

     Er entgegnete, er begreife vollkommen, daß Österreich nicht
gedemütigt werden dürfe, davon könne nicht die Rede sein. Er
hoffe, daß sich ein Ausweg finden lasse, der es Österreich ermögliche,
volle Genugtuung zu bekommen, ohne daß es Rußland zumute, ruhig
zuzusehen, bis Österreich an das äußerste Ende seiner kriegerischen
Unternehmungen gelangt sei. Das wäre gleichbedeutend mit einer
Demütigung Rußlands, die letzteres unmöglich hinnehmen könne.

     Ich entgegnete, daß eigentlich Serbien Rußland direkt nichts an-
ginge, und Rußland um so weniger Anlaß habe, sich in diesen grenz-
nachbarlichen Streit einzumischen, als Österreich Serbien nicht zu
annektieren beabsichtige.

     Er entgegnete, daß es ohne Annexion auch eine Form gebe, die
Serbien in einen Vasallenstaat Österreichs verwandeln würde. Das
könne und werde Rußland niemals mit ansehen. Rußlands Stellung
bei der orthodoxen Christenheit stände auf dem Spiel. Er ließ hier-
bei den Gedanken fallen, ob es denn nicht möglich sei, über die
Ausdehnungen der militärischen Operationen Österreichs und über
die Forderungen der Monarchie eine Verständigung herbeizuführen ?

     Aus den heutigen Ausführungen des Ministers entnahm ich
von neuem, daß man hier fest davon überzeugt ist, wie ich mich
wiederholt beehrt habe, Ew. Exz. zu berichten, daß ohne die Bereit-
willigkeit Österreichs, in eine Erörterung der serbischen Frage ein-
zutreten, der Weltkrieg unvermeidlich sein wird.
     Sir E. Grey ließ hierbei halb im Scherz die Bemerkung fallen,
man könne nie wissen, welche Häuser bei einem derartigen Brand
unversehrt bleiben würden, jetzt rüste sogar schon das kleine
Holland.

     Der Minister war sichtlich erfreut über meine Mitteilung, daß
Ew. Exz. bisher mit gutem Erfolg bestrebt gewesen sind, zwischen
Wien und Petersburg zu vermitteln3 und erklärte sich zu jeder Be-
teiligung bereit, die Aussicht auf Erfolg verspräche.

     Ich bat den Minister von neuem, in Petersburg vor übereilten
Entschlüssen zu warnen und namentlich zu verhindern, daß dort
eine allgemeine Mobilmachung Platz greife, die auch unsere Grenze
berühren würde. Die Folgen müßten unabsehbar sein. Der Mi-
nister versprach mir wiederum, in diesem Sinne zu wirken und dafür
zu sorgen, daß die Köpfe möglichst kühl bleiben.

     Schließlich teilte mir der Minister mit, daß der serbische Ge-
schäftsträger in Rom dem Marquis di San Giuliano erklärt habe,
daß, unter der Voraussetzung gewisser Erläuterung der Art der Be-
teiligung österreichischer Agenten, Serbien geneigt sein würde, auch
die Artikel 5 und 6 der österreichischen Note, mithin also alle For-
derungen, zu schlucken. Da nicht anzunehmen wäre, daß Österreich
sich in direkte Unterhandlungen mit Serbien einlassen würde,
könnte die Sache durch Vermittelung der Großmächte als Rat an
Serbien gelangen. Marquis di San Giuliano meint, daß auf dieser
Grundlage sich eine Einigung erzielen lassen könne. Vor allem
aber wünsche der Minister die unverzügliche Aufnahme der Bespre-
chung. Sir E. Grey hat Marquis di San Giuliano an die Wiener und
Berliner Kabinette verweisen lassen, da er ohne deren Zustimmung
nicht in der Lage sei, Besprechungen aufzunehmen.

     Schließlich teilte mir der Minister ein Telegramm Sir George
Buchanans mit, wonach russisches Ministerium der auswärtigen
Angelegenheiten den fremden Preßvertretern mitgeteilt haben soll,
daß, da Unterhandlungen zwischen Wien und Petersburg ergebnis-
los verlaufen seien, Rußland sich genötigt sehe, Betreten serbischen
Bodens durch österreichische Truppen als Kriegsfall zu betrachten.

                                                            L i c h n o w s k y


1 Nach der Entzifferung.
2 Aufgegeben in London 28 nachm., angekommen im Auswärtigen Amt
57 nachm.; Eingangsvermerk: 29. Juli nachm. Betr. Mitteilung von
Lichnowskys Telegramm an den Botschafter in Wien siehe Nr. 384.
3 Siehe Nr. 314; vgl. auch Nr. 323.