Nr. 395 Der Reichskanzler an den Botschafter in Wien, 30. Juli 1914
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Telegramm 192 Berlin, den 30. Juli 19142
Dringend !
Der k. Botschafter in London telegraphiert3:
»Sir E. Grey ließ mich soeben nochmals zu sich bitten. Der
Minister war vollkommen ruhig, aber sehr ernst, und empfing mich
mit den Worten, daß die Lage sich immer mehr zuspitze. Sasonow
habe erklärt, nach der Kriegserklärung nicht mehr in der Lage zu
sein, mit Österreich direkt zu unterhandeln und hier bitten lassen,
die Vermittelung wieder aufzunehmen. Als Voraussetzung für diese
Vermittelung betrachtet die russische Regierung die vorläufige Ein-
stellung der Feindseligkeiten.
Sir E. Grey wiederholte seine bereits gemeldete Anregung,
daß wir uns an einer solchen Vermittelung zu vieren, die wir
grundsätzlich bereits angenommen hätten, beteiligen sollten. Ihm
persönlich schiene eine geeignete Grundlage für eine Vermittelung,
daß Osterreich etwa nach Besetzung von Belgrad oder anderer
Plätze seine Bedingungen kundgäbe. Sollten Ew. Exz. jedoch die
Vermittelung übernehmen, wie ich heute früh in Aussicht stellen
konnte, so wäre ihm das natürlich ebenso recht. Aber eine
Vermittelung schiene ihm nunmehr dringend geboten, falls es nicht
zu einer europäischen Katastrophe kommen sollte.
Sodann sagte mir Sir E. Grey, er hätte mir eine freundschaft-
liche und private Mitteilung zu machen, er wünsche nämlich nicht,
daß unsere so herzlichen persönlichen Beziehungen und unser
intimer Gedankenaustausch über alle politischen Fragen mich
irreführten und er möchte sich für später den Vorwurf [der] Un-
aufrichtigkeit ersparen. Die britische Regierung wünsche nach wie
vor mit uns die bisherige Freundschaft zu pflegen und sie könne,
solange der Konflikt sich auf Österreich und Rußland beschränke,
abseits stehen. Würden wir aber und Frankreich hineingezogen,
so sei die Lage sofort eine andere und die britische Regierung
würde unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt
sehen. In diesem Falle würde es nicht angehen, lange abseits zu
stehen und zu warten, »if war breaks out, it will be the greatest
catastrophe that the world ever has seen«. Es liege ihm fern,
irgendeine Drohung aussprechen zu wollen, er habe mich nur vor
Täuschungen und sich vor dem Vorwurf der Unaufrichtigkeit
bewahren wollen und daher die Form einer privaten Verständigung
gewählt.«
Wir stehen somit, falls Österreich jede Vermittelung ablehnt,
vor einer Conflagration, bei der England gegen uns, Italien und Ru-
mänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden und wir
2 gegen 4 Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft
Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs politisches
Prestige, die Waffenehre seiner Armee, sowie seine berechtigten An-
sprüche Serbien gegenüber, könnten durch Besetzung Belgrads oder
anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde durch De-
mütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegenüber
wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Er-
wägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheim-
stellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen
Bedingungen
anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen
wäre für Österreich und uns eine ungemein schwere4.
B e t h m a n n H o l l w e g
1 Nach dem Konzept. Entwurf von Jagows Hand. — Vgl. Bethmanns Rede
im Reichstagsausschuß am 9. November 1916 (Nordd. Allg. Ztg. 10. No-
vember 1916).
2 265 vorm. zum Haupttelegraphenamt, auf der Botschaft in Wien »mittags«
angekommen.
3 Siehe Nr. 368.
4 Siehe Nr. 434, 437, 440, 441, 450, 464, 465, 468 und 482.