Nr. 56. Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Generaldirektor der Hapag, 16. Juli 1914

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Nr. 56
Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Generaldirektor der Hapag1


Ganz geheim!                                Berlin, den 15. Juli 19142

Sehr verehrter Herr Ballin!

     Entschuldigen Sie, wenn ich mit diesen Zeilen Ihre Badekur
störe, aber es handelt sich um eine Frage, welche auch Ihr stetes
Sorgenkind ist, unsere Beziehungen zu England.
     Sie werden die Veröffentlichungen des Berliner Tageblatts über
gewisse maritime Abmachungen zwischen England und Rußland
gelesen haben, die ja schließlich zu einer Interpellation im Unter-
hause und der etwas gewundenen Inabredestellung Greys geführt
haben. Ich weiß nicht, woher diese Nachricht auch auf den Re-
daktionstisch Theodor Wolffs geflogen ist, ich wollte ihr zunächst
auch keinen rechten Glauben schenken, weil sie mir zu sehr im
Widerspruch zu unseren scheinbar gebesserten Beziehungen, als auch
zur Abneigung der englischen Politik gegen derartige Bindungen zu
stehen schien. Ich bin der Sache aber natürlich nachgegangen und
habe — wie ich Ihnen im engsten Vertrauen mitteile — inzwischen
durch sehr geheime Quellen zu meinem Bedauern feststellen können,
daß die Nachricht doch ihre tatsächliche Unterlage hat. Lichnowsky
hat Grey auf das Tageblatt angeredet, und Grey hat nach einigem
Zögern die Sache auch nicht ganz in Abrede gestellt. Es ist nun
aber in Wirklichkeit noch mehr dahinter, als wohl Theodor Wolff
selbst wissen mag und der gute Lichnowsky glauben möchte. Es
wird tatsächlich zwischen London und Petersburg über ein Marine-
abkommen verhandelt, bei dem — dies wieder im tiefsten Ver-
trauen — von russischer Seite eine weitgehende militärisch-maritime
Kooperation erstrebt wird. Zum Abschluß sind diese Verhandlungen
trotz russischen Drängens noch nicht gelangt, zum Teil vielleicht,
weil Grey durch die Indiskretion des Tageblatts und des offenbaren
Widerstands bei einem Teil der liberalen Partei in England doch
etwas zögernd geworden ist. Aber die Russen scheinen sehr zu
drängen, und wer weiß, was sie als Gegenleistung bieten mögen.
Grey wird sich schließhch wohl doch dem Abschluß nicht wider-
setzen, falls er nicht im Schöße der eigenen Partei oder des Kabinetts
auf Widerstand stößt. Er mag sich als Pilatus vor sich selbst
damit ausreden, daß die Verhandlungen nicht eigentlich zwischen
den Kabinetten, sondern zwischen den Marinebehörden geführt werden.
Ich lasse es auch dahingestellt, ob die Engländer mit der ihnen
eigenen Casuistik mit der Reservatio mentalis verhandeln und ab-
schließen, im kritischen Moment, wenn es ihnen nicht paßt, nicht
eingreifen zu wollen, weil ein casus foederis voraussichtlich in dem
Abkommen nicht vorgesehen ist. Wenn nun auch das Abkommen
nach englischer Auffassung vielleicht in der Luft schweben möchte,
so würde es doch jedenfalls das Resultat haben, daß die aggressiven
Tendenzen Rußlands dadurch ganz wesentlich ermutigt werden
würden.
     Die Bedeutung, die die Angelegenheit für uns haben würde,
brauche ich nicht näher darzulegen. An eine weitere Annäherung
an England wäre für uns dann kaum mehr zu denken. Es erscheint
mir daher sehr wichtig, noch einmal den Versuch zu machen, die
Sache zum Scheitern zu bringen. Vielleicht würde, wenn die liberale
Partei nochmals alarmiert oder ein Mitglied des Kabinetts ent-
schiedene Bedenken dagegen äußern würde, Grey doch noch vor
dem definitiven Abschluß zurückschrecken. Mein Gedanke war
nun, ob Sie durch Ihre vielfachen intimen Beziehungen zu maß-
gebenden Engländern — haben Sie nicht auch solche zu Lord Hai-
dane? — nicht einen Warnruf über den Kanal gelangen lassen
könnten. Ich denke mir die Sache etwa so: Sie schreiben, Sie
hätten in Kiel erfahren, daß die Veröffenthchungen des Tageblattes
doch ihre tatsächhche Unterlage hätten. Unsere Marinekreise wären
darüber sehr erregt gewesen, und Sie sähen daraus einen neuen
unabwendbaren und intensiven naval scare, neue weitgehende Flotten-
vorlagen entstehen. Auch in der Wilhelmstraße hätte man sehr
lange Gesichter gemacht und sich sorgenvoll gefragt, ob das ganze
mühsame Werk einer englischen Annälierung nun rettungslos in die
Brüche gehen sollte. Das Gefühl, daß der eiserne Ring um uns
sich doch immer enger schheßen sollte, könnte bei der immer
drohender werdenden Erstarkung Rußlands und den immer aggressiver
werdenden Tendenzen des Panslawismus schließlich doch einmal
zu gefährlichen Konsequenzen führen.
     Ob dieser Weg gangbar ist, ob er nützt, weiß ich nicht. Viel-
leicht können Sie mir einen anderen angeben. Ich meine, man
darf nichts unversucht lassen, um die Sache zum Scheitern zu
bringen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir Ihre Ansicht
mitteilen wollten und eventuell, was Sie tun zu können für möglich
halten. In jedem Fall wäre Eile geboten, damit inzwischen nicht
der Abschluß erfolgt, auf den Herr Poincaré in Petersburg wohl
auch hinarbeitet.

     Mit den besten Wünschen für eine gute Badekur bin ich

                                        Ihr sehr ergebener

                                                                 J a g o w

     Nachdem ich dies gestern abend geschrieben, lese ich heute früh
einen neuen Artikel von Wolff im Berliner Tageblatt. Seine Ge-
währsmänner scheinen die Dinge doch also auch ernster aufzufassen3 4.


1 Nach dem Konzept von Jagows Hand.
2 16. Juli 645 nachm. zur Post.
3»Nachdem ich dies . . . . . . . . . . aufzufassen«, Nachschrift Jagows in der Aus-
fertigung, beigefügt am 16. Juli.
4Siehe Nr. 57 und 254.