Nr. 62. Der Botschafter in London an den Reichskanzler, 18. Juli 1914

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Nr. 62
Der Botschafter in London an den Reichskanzler1


                                                       London, den 16. Juli 19142

     Vom Standpunkt des Grafen Berchtold ist es vollkommen be-
greiflich, daß er seine durch den Bukarester Frieden stark er-
schütterte Stellung und den durch den Abfall Rumäniens verminderten
Einfluß der Monarchie auf dem Balkan dadurch wieder zu heben
gedenkt, daß er die jetzige verhältnismäßig günstige Gelegenheit zu
einem Waffengange mit den Serben benutzt. Die leitenden mili-
tärischen Persönlichkeiten in Österreich haben bekanntlich schon
seit längerer Zeit dahin gedrängt, das Ansehen der Monarchie durch
einen Krieg zu befestigen. Einmal war es Itahen, dem der Irreden-
tismus ausgetrieben, ein andermal Serbien, das durch Kriegstaten
k la Prinz Eugen zur Entsagung und zu besseren Sitten gezwungen
werden sollte. Ich begreife, wie gesagt, diesen Standpunkt der
österreichischen Staatsleiter und würde in ihrer Lage vielleicht schon
früher die serbischen Wirren dazu benutzt haben, um die süd-
slawische Frage im habsburgischen Sinne zu lösen.
     Die erste Voraussetzung für eine derartige Politik müßte aber
ein klares Programm sein, das auf der Erkenntnis beruht, daß der
heutige Staats- und völkerrechtliche Zustand innerhalb der serbo-
kroatischen Völkerfamilie, der einen Teil dieser nur durch die Re-
ligion, nicht aber durch die Rasse gespaltenen Nation dem öster-
reichischen, einen anderen dem ungarischen Staat, einen dritten
der Gesamtmonarchie und einen vierten und fünften endlich unab-
hängigen Königreichen zuweist, auf die Dauer nicht haltbar ist.
Denn das Bestreben, den geheiligten status quo aus Bequemlich-
keitsgründen unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, hat schon
oft und so erst bei der jüngsten Balkankrise zu einem völligen
Zusammenbruch des auf diesen Grundlagen erbauten politischen
Kartenhauses geführt.
     Zunächst bezweifle ich nun, daß in Wien ein großzügiger Plan,
der allein die Grundlagen einer dauernden Regelung der südslawischen
Frage bieten würde, ich meine den Trialismus mit Einschluß Serbiens,
gefaßt worden ist. Nach meiner Kenntnis der dortigen Verhältnisse
glaube ich auch gar nicht, daß man in der Lage ist, eine derartige
staatsrechtliche Umgestaltung der Monarchie in die Wege zu leiten.
Denn es wäre hierzu vor allem der Widerstand Ungarns zu über-
winden, das sich gegen eine Abtretung von Kroatien mit Fiume
auf das Äußerste wehren würde. Zur Durchführung eines der-
artigen Programms fehlt es in Wien auch an der hierzu geeigneten
kraftvollen Persönlichkeit. Man sucht dort vielmehr meist nur den
Bedürfnissen des Augenblicks zu genügen und ist froh, wenn die
vielen politischen Schwierigkeiten, die niemals aussterben, da sie
sich aus der Verschiedenartigkeit der Zusammensetzung des Reiches
ergeben, so weit behoben sind, daß Aussicht besteht, wieder einige
Monate fortwursteln zu können.
     Eine militärische Züchtigung Serbiens hätte daher niemals den
Zweck oder das Ergebnis einer befriedigenden Lösung der so über-
aus schwierigen südslawischen Frage, sondern bestenfalls den Erfolg, die
mühsam beigelegte orientalische Frage von neuem ins Rollen gebracht
zu haben, um Österreich eine moralische Genugtuung zu verschaffen.
     Ob Rußland und Rumänien hierbei müßig zusehen und Öster-
reich freie Hand lassen würden, werden Ew. Exz. besser zu beur-
teilen in der Lage sein als ich. Nach meinen hiesigen Eindrücken,
namentlich aber nach den vertraulichen Unterhaltungen, die ich mit
Sir Edward Grey gehabt habe, glaube ich, daß meine kürzlich in
Berlin vertretenen Ansichten über die Absichten Rußlands uns gegen-
über zutrafen. Sir Edward Grey versichert mir, daß man in Ruß-
land nicht daran denke, mit uns Krieg führen zu wollen. Alin-
liches sagt mir mein Vetter Graf Benckendorff. Eine gewisse anti-
deutsche Stimmung kehre dort von Zeit zu Zeit regelmäßig wieder,
das hänge mit dem slawischen Empfinden zusammen. Dieser
Strömung gegenüber bestehe aber immer eine starke prodeutsche
Partei. Weder der Kaiser noch irgend eine der maßgebenden Person-
lichkeiten sei antideutsch und seit der Beilegung der Limanfrage sei
keine ernste Verstimmung wieder eingetreten. Hingegen gab Graf
Benckendorff offen zu, daß ein starkes antiösterreichisches Emp-
finden in Rußland hestehe. Es denke aber dort niemand daran,
Teile von Österreich, wie etwa Galizien, erobern zu wollen.
     Ob angesichts dieser Stimmung es möglich sein würde, die
russische Regierung beim österreichisch-serbischen Waffengange zur
passiven Assistenz zu bewegen, vermag ich nicht zu beurteilen.
Was ich aber glaube, mit Bestimmtheit sagen zu können, ist, daß
es nicht gelingen wird, im Kriegsfalle die öffentliche hiesige Meinung zu-
ungunsten Serbiens zu beeinflussen, selbst durch Heraufbeschwörung
der blutigen Schatten Dragas und ihres Buhlen, deren Beseitigung
vom hiesigen Publikum schon längst vergessen ist und daher zu
den historischen Ereignissen gehört, mit denen, soweit außer-
britische Länder in Frage kommen, man hier im allgemeinen weniger
Vertrautheit besitzt, als bei uns etwa der durchschnittliche Quartaner,
     Ich bin nun weit entfernt, für eine Preisgabe unserer Bundes-
genossenschaft oder unseres Bundesgenossen einzutreten. Ich halte
das Bündnis, das sich in dem Empfindungsleben beider Reiche ein-
gelebt hat, für notwendig und schon mit Rücksicht auf die vielen
in Österreich lebenden Deutschen für die natürliche Form ihrer
Zugehörigkeit zu uns. Es fragt sich für mich nur, ob es sich für
uns empfiehlt, unseren Genossen in einer Politik zu unterstützen,
bzw. eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche
ansehe, da sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch
zu einer Vernichtung der großserbischen Bewegung führen wird.
Wenn die k. u. k. Polizei und die bosnischen Landesbehörden den
Thronfolger durch eine »Allee von Bombenwerfem« geführt haben,
so kann ich darin keinen genügenden Grund erblicken, damit wir
den berühmten pommerschen Grenadier für die österreichische
Pandurenpolitik aufs Spiel setzen, nur damit das österreichische
Selbstbewußtsein gekräftigt werde, das in diesem Falle, wie die Ära
Ährenthal gezeigt hat, sich als vornehmste Aufgabe die möglichste
Befreiung von der Berliner Bevormundung hinstellt.
     Sollte aber wirklich für unsere politische Haltung die Ansicht
ausschlaggebend sein, daß nach Verabreichung des »Todesstoßes« an
die großserbische Bewegung das glückliche Österreich, von dieser
Sorge befreit, sich uns für die geleistete Hilfe dankbar erweisen
wird, so möchte ich die Frage nicht unterdrücken, ob nach Nieder-
werfung des ungarischen Aufstandes durch die Hilfe des Kaisers
Nikolaus und die vielseitige Inanspruchnahme des Galgens nach
Bezwingung der Ungarn bei Vilägos und unter der Oberleitung des
kaiserlichen Generals Haynau die nationale Bewegung in Ungarn er-
drückt wurde, und ob die rettende Tat des Zaren ein inniges und
vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden Reichen begründet hat.

                                                                      L i c h n o w s k y


1 Nach der Ausfertigung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts : 18. Juli vorm.