Nr. 704 Der Botschafter in Wien an das Auswärtige Amt, 3. August 1914

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Nr. 704
Der Botschafter in Wien an das Auswärtige Amt1

Telegramm 158                          Wien, den 3. August 19142

     Graf Berchtold schreibt mir:

     »Der russische Botschafter suchte mich gestern in freund-
schaftlicher Weise auf, um sich, wie er sagte, nach etwaigen Neuig-
keiten zu erkundigen. Er hoffe noch immer, daß es gelingen werde,
den bestehenden Streitfall durch direkte Verhandlungen zu beheben.
Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge wäre es wohl besser, sich
hierzu auf neutrales Terrain zu begeben, wofür London besonders
geeignet wäre. Es sei überaus bedauerlich, daß man in Deutschland
anscheinend den Krieg forcieren wolle. Rußland hätte ja in Berlin
bereits die bündigsten Versicherungen abgegeben, daß seine mili-
tärischen Maßnahmen keinen feindlichen Charakter gegen die
Monarchie oder Deutschland trügen. Allerdings mußte man in
Petersburg nach wie vor darauf bestehen, daß wir den Konflikt mit
Serbien nicht lösen, ohne Rußland zu konsultieren, dessen Interesse
bei dieser Frage im Spiele sei. Ich ging auf diese Darlegungen
Herrn Schebekos nicht weiter ein, begann jedoch ein freundschaft-
liches, nicht offizielles Gespräch, in dessen Verlauf ich den russischen
Botschafter auf die vielfachen Torheiten der russischen Balkan-
politik aufmerksam machte. Es gäbe eine weit breitere Grundlage
zu einer Auseinandersetzung zwischen uns und Rußland, wenn man
sich nur  e i n m a l  in Petersburg dazu entschließen könnte, nicht
immer und ausschließlich das Schicksal der Balkanstaaten zum
Angelpunkt des Verhaltens gegen uns zu machen. Herr Schebeko
antwortete gleichfalls sehr freundschaftlich, erörterte in akade-
mischer Weise die mannigfaltigen Verpflichtungen Rußlands als
orthodoxer und slawischer Staat, verwies auf gewisse sentimentale
Veranlagungen des russischen Volkes und verließ mich mit der Be-
merkung, eigentlich handele es sich zwischen uns und Rußland um
ein großes Mißverständnis. Unmittelbar darauf erhielt ich den
Besuch Dumaines, der ebenso friedliche Töne anschlug wie sein
russischer Kollege, mit wehmütigem Bedauern auf das kriegerische
Vorgehen Kaiser Wilhelms verwies und seiner Überzeugung Aus-
druck gab, es müsse eine Formel gefunden werden, die unseren ge-
rechten Ansprüchen Rechnung trage, Rußlands Interesse an Ser-
bien befriedigt und den Weg zum Frieden eröffne.« 
     Heute hat der russische Botschafter3 Kudaschew einen jüngeren
Herrn des Ballhausplatzes, Grafen Fery Kinsky, aufgesucht und ihn
gefragt, ob Österreich denn verpflichtet sei, Deutschland gegen Ruß-
land beizustehen. Am Ballhausplatz hält man das Ganze für »in-
famen Schwindel«, weil Österreich nicht schnell mobilisieren könne
und Rußland hoffe, daß Österreich es nicht vorzeitig angreifen
werde. Graf Kinsky hat Kudaschew gefragt, ob die russische
Mobilisierung vielleicht gegen die Mongolei gerichtet gewesen sei.
     Es ist zweifellos, was auch Graf Kageneck bestätigt, daß man
russischerseits mit dieser naiv klingenden Anfrage und der osten-
tativen Nichtprovozierung der Monarchie auch auf militärischem
Gebiet (die Russen haben ihre Truppen zwei Kilometer von der
Grenze zurückgezogen) darauf hinzielt, einen Keil zwischen uns und
Österreich zu treiben. Das Spiel ist hier völlig durchschaut.
                                                                 T s c h i r s c h k y


1 Nach der Entzifferung.
2 Aufgegeben in Wien 1230 vorm., angekommen im Auswärtigen Amt 332 vorm.
Emgangsvermerk : 3. August vorm. Am 3. August dem Generalstab, Kriegs-
ministerium, Admiralstab und Reichsmarineamt mitgeteilt.
3 In den Wiener Bolschaftsakten richtig »Botschaftsrat«.