Nr. 820 Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt, 4. August 1914

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Nr. 820
Der Botschafter in London an das Auswärtige Amt1


Telegramm 245                               London, den 4. August 19142 3

     Gestern war mir der gesamte Wortlaut der Rede Sir E. Greys
noch nicht bekannt, von der lediglich ein kurzer Parlamentsbericht
vorlag, und nach der heutigen Bekanntgabe des Gesamtinhalts muß
ich meine gestrige Auffassung dahin berichtigen, daß ich nicht glaube,
daß wir sehr viel länger noch mit der Neutralität Englands zu
rechnen haben werden3.
     Wie ich Ew. Exz. wiederholt berichtet habe, bildete Frage der
Verletzung belgischer NeutraHtät einen der wichtigsten Punkte für
die Zurückhaltung Englands. Sowohl Mr. Asquith als Sir E. Grey
hatten mich hierauf hingewiesen, und konnte ich, wie berichtet,
gestern vor der Sitzung4 feststellen, daß Sir E. Grey sich infolge
der Verletzung des belgischen Gebiets durch unsere Truppen in tiefer
Erregung befand.
     Welche Form das britische Eingreifen annimmt, und ob dasselbe
sofort erfolgt, entzieht sich meiner Beurteilung. Ich sehe aber nicht,
wie nach gedachter, mir gestern nur auszugsweise bekannter Rede
die hiesige Regierung zurückweichen sollte, falls wir nicht in der
Lage sind, das belgische Gebiet in allerkürzester Frist zu räumen.
Wir haben daher wohl voraussichtlich mit der baldigen Gegnerschaft
Englands zu rechnen. Die Aufnahme, die die Rede Sir E. Greys
im Hause gefunden hat, kann dahin gedeutet werden, daß die Re-
gierung außer dem linken Flügel ihrer eigenen Partei die überwiegende
Mehrheit des Parlaments bei einer aktiven Politik, die Frankreich
und Belgien zu schützen bezweckt, hinter sich haben wird.
     Die gestern eingetroffenen Nachrichten über Einmarsch deutscher
Truppen in Belgien hatten in der öffenthchen Meinung einen völligen
Umschwung zu unseren Ungunsten herbeigeführt. Der in bewegten
Worten gehaltene Appell des Königs der Belgier vertieft bedeutend
diesen Eindruck.

                                                                      L i c h n o w s k y


1 Nach der Entzifferung.
2 Aufgegeben in London 102 vorm., angekommen im Auswärtigen Amt 137
nachm. Eingangsvermerk : 4. August nachm. Entzifferung am 4. August
an den Kaiser gesandt.
3 Siehe Nr. 801 und 835.
4 Gemäß einer telegraphischen Berichtigung Lichnowskys (aufgegeben in
London 1240 nachm., angekommen im Auswärtigen Amt 459 nachm. Ein-
gangsvermerk: 4. August nachm.) ist »vor der Sitzung« zu lesen, anstelle
des ursprünglich gedrahteten »in der Zeitung«.