Nr. 94. Der Botschaft in Wien an den Reichskanzler, 21. Juli 1914

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Nr. 94
Der Botschafter in Wien an den Reichskanzler1


Geheim !                                    Wien, den 20. Juli 19142

     Ich habe sämtliches mir in bezug auf die Haltung Italiens zum
österreichisch -serbischen Konflikt zur Verfügung gestelltes Material
heute in eingehender vertraulicher Unterredung mit Graf Berchtold
verwertet und besonders dabei nachdrücklich auf die Wichtigkeit
hingewiesen, sich über eventuelle Kompensationsansprüche Italiens
klar zu werden. Dabei habe ich noch besonders betont, daß wir bisher
in Rom keinerlei Mitteilung über unsere Verhandlungen mit Wien ge-
macht und selbst verständhch auch die Kompensationsfrage dort
nicht erörtert haben, welche Bemerkung Graf Berchtold dankend zur
Kenntnis nahm.
     Ich führte weiter aus, daß es für die künftige Haltung Italiens
und die dortige öffentliche Meinung wie auch die Haltung Englands
von ausschlaggebender Bedeutung sein werde, welches die Ideen der
österreichisch -ungarischen Staatsmänner über die zukünftige Ge-
staltung Serbiens sind. Wir hätten natürlich als Partner das drin-
gendste Interesse, hierüber orientiert zu werden. Graf Berchtold
stimmte dem durchaus bei und sagte, seiner Ansicht nach würde,
wie die Dinge lägen, die Kompensationsfrage jetzt überhaupt nicht
aktuell werden ; in der gestrigen Besprechung sei, besonders auf
Drängen des Grafen Tisza, der hervorgehoben habe, weder ihm noch
irgendeiner ungarischen Regierung könne eine Stärkung des sla-
wischen Elementes innerhalb der Monarchie durch Angliederung
serbischer Gebietsteile zugemutet werden, beschlossen worden, von
jeder dauernden Einverleibung fremden Gebietes abzusehen. Hiermit
würde dann jeder irgendwie stichhaltige Grund für Italien, Kompen-
sationen zu fordern, wegfallen. Auf meine Bemerkung, daß seitens
Italiens selbst schon die Niederwerfung Serbiens und die damit ver-
bundene Ausdehnung des Einflusses der Monarchie am Balkan als
eine Schädigung seiner Position angesehen und möglicherweise zu
Reklamationen führen würde, meinte der Minister, dieser Standpunkt
stehe im Widerspruch mit den wiederholten Erklärungen des Marquis
di San Giuliano, daß Itaüen ein starkes Österreich brauche, schon
als Schutzwall gegen die slawische Flut. Im übrigen läge bei der
Operation gegen Serbien der springende Punkt nicht darin, daß
Österreich einen Machtzuwachs am Balkan, sondern lediglich ein
Zurückweisen des slawischen Vorstoßes nach Westen hin in das Ge-
biet der Monarchie damit beabsichtige. Dies den Italienern klar zu
machen, werde wohl gelingen, um so mehr als Italien unmöglich bei
dieser Sachlage einen Grund zu feindlicher Stellungnahme gegenüber
Österreich werde finden können. Wenn Marquis di San Giuliano
sage, daß Italien die österreichischen Reklamationen gegen Serbien
nicht unterstützen könne, weil sie im Widerspruch ständen mit den
Nationalitäten- und den liberalen Regierungsprinzipien, so läge doch
die Sache so, daß eben eine liberale Regierungsmethode in den von
Serben bewohnten österreichischen Provinzen, die unter österreichischer
Herrschaft alle Attribute des liberalen konstitutionellen Staates ver-
liehen bekommen hätten, durch die großserbische Propaganda un-
möghch gemacht würde. Daß übrigens Italien das Nation ahtäten-
prinzip selbst nicht befolge und dessen Hochhaltung nur von anderen
verlange, gehe klar aus der Besetzung Libyens hervor, die im
direkten Gegensatz zu diesem Prinzip als reine Machtfrage die
Unterjochung einer fremden Nation zum Ziele hatte. Wenn man
sich übrigens in Rom augenblicklich eine weitgehende österreichisch-
italienische Kooperation praktisch nicht vorstellen könne, so läge
durchaus kein Anlaß zu einer solchen Kooperation vor; Österreich
verlange weder eine Kooperation noch eine Unterstützung, sondern
lediglich Enthaltung feindlichen Vorgehens gegen den Bundesgenossen.
     Er werde jedenfalls alles tun, um soweit irgend möglich
italienische Empfindlichkeiten zu schonen, und er habe schon daran
gedacht, den Italienern irgend etwas hier im Innern zur Beruhigung
zu geben. Den letzteren Gedanken habe ich auf das Lebhafteste
unterstützt und dem Minister zu weiterer Ausgestaltung empfohlen.
     Graf Berchtold teilte mir weiter mit, daß auch Herr von Merey,
der es strikt vermieden habe, mit Marquis di San Giuliano über
die serbische Sache zu sprechen, weil er sicher sei, daß jede, auch
die geringste Andeutung italienischerseits sofort nach Rußland
weitergegeben und zu Gegenaktionen und Kompensationsansprüchen
ausgenutzt werden würde, sich über die antiösterreichische und pro-
serbische Stimmung San Giulianos und der Italiener keinen Illusionen
hingebe, aber fest davon überzeugt sei, daß Italien militärisch und
innerpolitisch kaum daran denken könne, aktiv einzugreifen. Herr
von Mérey glaube, und er, der Minister, halte diese Ansicht für be-
gründet, daß es San Giuliano hauptsächhch darauf ankomme, Öster-
reich zu bluffen und für sich Schutz vor der öffentlichen Meinung
Italiens zu suchen. Er habe Anzeichen dafür, daß San Giuliano
selbst seine russischen Verbindungen in dieser Absicht auszunutzen
bestrebt sei.
     Herr von Mérey hat vorgeschlagen, aus Rücksicht für Italien,
damit man dort die Note nicht erst aus den Zeitungen erfahre,
diese durch ihn dem Marquis di San Giuliano am gleichen Tage
wie in Belgrad zur Kenntnis bringen zu lassen; er, der Minister,
werde diesem Rate folgen. Bei der Wichtigkeit, Italien die Stellung-
nahme an der Seite Österreichs zu ermöglichen und gleich von
vornherein jedes Mißverständnis auszuschließen, werde er gleichzeitig
mit der Übergabe der Note in Rom erklären lassen, daß Österreich-
Ungarn bei seiner Aktion gegen Serbien keinerlei Gebietszuwachs
für sich beabsichtige.

                                                       v o n   T s c h i r s c h k y


1 Nach der Ausfertigung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts: 21. Juli nachm. Durch Erlaß
vom 21. Juli dem Botschafter in Rom zur »streng vertraulichen Infor-
mation« mitgeteilt.