View source for 3. Deutschlands Stellungnahme

[[Main_Page | WWI Document Archive ]] > [[Official Papers]] > [[Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 &mdash; Volume 5 (Commentary)]] > [[II. Der österreichisch-serbische Konflikt]] > '''3. Deutschlands Stellungnahme'''<hr>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Nach der Bluttat von Sarajevo war auch in Deutschland <br>
jedermann überzeugt, daß Österreich-Ungarn Serbien zur Rechen- <br>
schaft ziehen werde, denn niemand zweifelte daran, daß dies Ver- <br>
brechen ein Ausfluß der großserbischen Propaganda sei. Dieser <br>
ein Ende zu machen, erschien geboten. Mit seiner Randglosse <br>
vom 4. Juli „Jetzt oder nie" (Weißbuch Nr. 7) bewegte sich der <br>
Kaiser ganz auf dem Boden der öffentlichen Meinung Deutsch- <br>
lands. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Was die Haltung der deutschen Regierung anlangt, so ist <br>
der Ausgangspunkt für die Betrachtung der damaligen Lage in <br>
dem österreichisch-ungarischen Memorandum zu suchen, das am <br>
5. Juli in Berlin überreicht wurde (Weißbuch Nr. 14). Diese <br>
Denkschrift verdient deshalb sorgfältiges Studium, weil sie die <br>
Auffassung des Wiener — und soweit unwidersprochen — des <br>
Berliner Kabinetts über die politische Gesamtlage wiedergibt. <br>
Nur über einen Punkt erteilt sie keinen Aufschluß, und auch die <br>
Akten schweigen hierüber. Das ist die Frage, wie sich Deutsch- <br>
land zur früheren österreichisch-ungarischen Balkanpolitik, und <br>
insbesondere zu Serbien, gestellt hat. Wir wissen aber aus dem <br>
österreichischen Rotbuch 1919 (I, Nr. 2), daß sich Tisza <br>
am 1. Juli über die „Eingenommenheit" des deutschen Kaisers <br>
für Serbien beklagt hat. Er bat, die Anwesenheit Kaiser Wilhelms <br>
in Wien zu benutzen, um seine Sympathie für Serbien „an der <br>
Hand der letzten empörenden Ereignisse zu bekämpfen". Der <br>
Kaiser kam nicht nach Wien. Die Weitergabe der Gerüchte von <br>
einem gegen ihn geplanten Attentat (Weißbuch Nr. 6a, 6b, 9; <br>
Rotbuch 1919, I, Nr. 3) hat aber anscheinend dem Zwecke dienen <br>
sollen, ihn gegen Serbien einzunehmen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Auch der englische Botschafter in Wien hat unter dem 5. Juli <br>
berichtet, daß der „deutsche Kaiser mit der Serbien feindlichen <br>
Politik Österreich-Ungarns nicht einverstanden gewesen sei" <br>
(Oman*), S. 14; vgl. auch Weißbuch Nr. 16, 41). Bethmann <br>
Hollweg hatte, wie aus dem Rotbuch 1919 (I, Nr. 7) hervorgeht, <br>
Österreich-Ungarn „bisher stets den Rat erteilt, sich mit Serbien <br>
zu vertragen". Berlin scheint nach der Wiener Auffassung die <br>
Ausführung österreichisch-ungarischer Balkanpläne wiederholt be- <br>
einträchtigt zu haben. Nach dem Umschwung schrieb deshalb <br>
Tisza, am 8. Juli, von dem „langersehnten vollen Erfolg in Berlin" <br>
(Rotbuch 1919, I, Nr. 12). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;In Deutschland bestand kein Grund zu zweifeln, daß die <br>
Regierung in Belgrad für das Attentat gegen den Erzherzog- <br>
Thronfolger verantwortlich zu machen sei. Es schien eine ernst- <br>
hafte Untersuchung in Sarajevo stattzufinden (Weißbuch Nr. 7, <br>
8, 13). Von dem Bericht Wiesners über das zweifelhafte Ergebnis <br>
der Vernehmungen (Rotbuch 1919, I, Nr. 17) hat Berlin keine <br>
Kenntnis erhalten. Die deutschen Berichte aus Belgrad (Weiß- <br>
buch Nr. 10, 19a) schienen die Wiener Auffassung von der Schuld <br>
Serbiens zu bestätigen. Es ist auch nicht zu vergessen, daß die <br>
serbische Presse in jenen Tagen eine maßlose Hetze gegen Öster-<br> 
reich-Ungarn betrieb, daß serbische Diplomaten sich zu unge- <br>
hörigen Äußerungen hinreißen ließen, und daß nach glaubwürdigen <br>
Nachrichten damals in Belgrad wiederholt österreichfeindliche <br>
Demonstrationen stattgefunden haben. Alles dies war geeignet, <br>
BerHn von der Notwendigkeit eines Einschreitens gegen Serbien <br>
zu überzeugen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Was nun den Inhalt des österreichisch-ungarischen Memo- <br>
randums (Weißbuch Nr. 14) anlangt, so wird hinsichtlich der all- <br>
gemeinen Lage in Europa darauf hingewiesen, daß die Mittel- <br>
mächte eine konservative Politik betrieben, während der Zwei- <br>
bund Frankreich-Rußland einer offensiven Tendenz huldigte. <br>
Der europäische Friede sei bisher nur dank der militärischen <br>
Überlegenheit des durch Rumänien verstärkten Dreibundes er- <br>
halten worden. Die Wiener Regierung zog ferner eine Bilanz der <br>
Ergebnisse des Balkankrieges, in der die Passivposten die Aktiva <br>
überwogen. Zwar sei ein albanischer Staat gegründet worden, <br>
Griechenland nehme eine dem Dreibund freundliche Haltung <br>
ein, und Bulgarien habe sich von dem russischen Einfluß befreit. <br>
Dagegen sei die Türkei sehr geschwächt und Serbien außerordent- <br>
lich vergrößert worden. Die Union Serbiens mit Montenegro <br>
stehe bevor. Die bedenklichste Erscheinung sei aber die Ent- <br>
fremdung Rumäniens, seine Annäherung an Rußland und sein <br>
enges Einvernehmen mit Serbien. Das Bündnis der Mittelmächte <br>
mit Rumänien sei nahezu entwertet. Durch diese Verschiebung <br>
der Kräfte und des politischen Gesamtbildes sei die Hauptfriedens- <br>
garantie Europas, die militärische Überlegenheit der Mittelmächte, <br>
im Begriff zu verschwinden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Dazu komme, daß Rußland und Frankreich sich mit dem <br>
ihnen günstigen Ergebnisse der Balkankriege nicht zufrieden <br>
gäben. Ihre Politik gehe offenbar darauf aus, die gegenwärtig <br>
vorhandene Spaltung der Balkanvölker zu beseitigen und den <br>
neu zusammengeschlossenen Balkanbund als Waffe gegen Mittel- <br>
europa zu gebrauchen, um die militärische Überlegenheit des <br>
Dreibundes zu beseitigen. Als Mittel zu diesem Zwecke diene <br>
anscheinend (dies wurde übrigens inzwischen durch russische und <br>
serbische Dokumente bestätigt) das Versprechen einer Vergröße- <br>
rung der Balkanstaaten auf Kosten Österreich-Ungarns im Wege <br>
einer allgemeinen Grenzverschiebung von Ost nach West. Eine <br>
solche Politik sei um so gefährlicher, als die Revanchepläne Frank- <br>
reichs zur Genüge bekannt seien, und Rußland außerordentliche <br>
Rüstungen betriebe, die sich offensichtlich gegen Deutschland <br>
richteten. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Als Mittel, diese Gefahren zu beschwören, schlug die Wiener <br>
Regierung vor, Bulgarien an Stelle von Rumänien zum Balkan- <br>
exponenten der Mittelmächte zu machen. Werde Bulgarien vor <br>
der von Rußland und Frankreich erstrebten Isolierung be- <br>
wahrt, so könne es vom Anschluß an den neuen Balkanbund <br>
abgehalten werden. Hierzu sei ein Vertragsverhältnis mit Bulgarien <br>
erforderlich, das durch ein bulgarisch-türkisches Bündnis zu er- <br>
gänzen sei. Auf diese Weise lasse sich die russisch-französische <br>
Balkanpolitik und ihre aggressiven Absichten vereiteln, <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Serbien wird in dieser Denkschrift nur ganz kurz erwähnt. <br>
Österreich-Ungarns Stellung zu diesem Nachbar wird dagegen <br>
in einem Schlußabsatz, der nach der Mordtat von Sarajevo ge- <br>
schrieben ist, dargelegt. Wie wir heute wissen, liegt das Bedenk- <br>
liche in Österreich-Ungarns Stellungnahme zu Serbien weniger <br>
in dem, was in dieser Denkschrift gesagt worden ist, als in dem, <br>
was sie nicht enthält. Denn sowohl in dem ersten Entwurf des <br>
Memorandums (vom Mai), wie auch in seiner zweiten Fassung <br>
(vom Juni) ist die Möglichkeit einer Wiederannäherung Serbiens <br>
an Österreich-Ungarn durch rumänische Vermittlung noch vor- <br>
gesehen. Durch die Streichung dieses Punktes, die natürlich in <br>
Berlin nicht bekannt war, gewinnen im Anhang zur Denkschrift <br>
die Worte „Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der <br>
Monarchie und Serbien" und „die Notwendigkeit, mit entschlossener <br>
Hand die Fäden zu zerreißen" eine Bedeutung, die ohne Kenntnis <br>
der Vorgeschichte des Memorandums nicht ersichtlich war. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das Handschreiben des Kaisers Franz Joseph vom 2. Juli <br>
(Weißbuch Nr. 13) faßt den Inhalt des Memorandums, der ein <br>
an sich einwandfreies politisches Programm darstellt, noch einmal <br>
zusammen und verschärft seine Grundgedanken, namentlich in <br>
der serbischen Frage. Es bleibt aber als Hauptinhalt das durchaus <br>
friedliche Ziel, einen neuen, den Mittelmächten freundlichen <br>
Balkanbund zu schaffen. Wenn das Wiener Kabinett, das hierin <br>
mit Petersburg und Paris übereinstimmte, die Besitzverhältnisse <br>
auf dem Balkan so kurz nach den Balkankriegen noch nicht als <br>
endgültig ansah, so ist dies nur natürlich. Bulgarien war im Frieden <br>
von Bukarest schweres Unrecht geschehen. Nichts ist begreif- <br>
lieber, als daß man in Wien geneigt war, aus dieser Tatsache <br>
politischen Nutzen zu ziehen. Wenn es demnach in dem Schreiben <br>
des Kaisers Franz Josef heißt, das Bestreben Österreich-Ungarns <br>
müsse „in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens <br>
gerichtet sein", so ist dies ebenfalls nicht befremdlich. Zu Un- <br>
recht ist hieraus die erklärte Absicht eines österreichisch-unga- <br>
rischen Eroberungskrieges gefolgert worden. Eine solche Absicht <br>
konnte dem Schreiben nicht entnommen werden, denn es heißt <br>
anschließend: „die erste Etappe auf diesem Wege wäre in einer <br>
Stärkung der Stellung der gegenwärtigen bulgarischen Regierung <br>
zu suchen". Dies bedeutete ein Programm, das sich erst in Jahr <br>
und Tag verwirklichen ließ. Hält man dieser Stelle die des Memo- <br>
randums gegenüber, in der es heißt, Bulgarien müsse vor russischen <br>
Lockungen eines Wiedererwerbes Mazedoniens bei einer staffel- <br>
weisen Verrückung der Grenzen von Ost nach West bewahrt werden, <br>
so scheint es, daß in Wien die Absicht bestanden hat, Bulgarien <br>
in der Hoffnung auf einen künftigen Krieg gegen Serbien zu <br>
bestärken. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Was schließlich die Haltung Deutschlands gegenüber den <br>
österreichisch-ungarischen Vorschlägen anlangt, so ist zunächst <br>
festzustellen, daß zwischen dem Kaiser, dem Kanzler und dem <br>
Auswärtigen Amt Übereinstimmung geherrscht hat. Eine Stellung- <br>
nahme zur Wiener Darlegung der allgemeinen europäischen Lage <br>
erfolgte nicht, doch ist die Auffassung der deutschen Regierung <br>
und ihre Beunruhigung aus dem Erlaß nach London vom 16. Juni <br>
(Weißbuch Nr. 3) ersichtlich. Die österreichisch-ungarischen <br>
Sorgen wegen der Lage auf dem Balkan, und insbesondere Serbiens, <br>
wurden als berechtigt anerkannt. Die russischen und serbischen <br>
Urkunden haben ja auch die Wiener Darstellungen in allen wesent- <br>
lichen Punkten bestätigt. Die Berliner Regierung erklärte ihr <br>
Einverständnis mit jedem Vorgehen Österreich-Ungarns gegen <br>
Serbien, also auch mit einem Kriege. Sie gab der Wiener Regierung <br>
freie Hand. übrigens war auch die österreichisch-ungarische <br>
Regierung der Ansicht, daß sie allein zu entscheiden habe, was <br>
gegen Serbien unternommen werden müsse (Rotbuch 1919, I, <br>
Nr. 3). Deutscherseits ist aber nicht die Einwilligung zu einer <br>
machtpolitischen Aktion im Sinne einer Expansionspolitik gegeben <br>
worden. Von der Absicht eines „Vormarsches auf Konstantinopel", <br>
von der die Entente zu berichten weiß, ist nach Maßgabe der Ber- <br>
liner und Wiener Akten keine Rede. Die Aktion war als rein de- <br>
fensives Unternehmen gedacht. Sie wurde deutscherseits ge- <br>
billigt trotz der Gefahr einer Verwicklung mit Rußland (Weiß- <br>
buch, Band I, S. XV, XVI; Reichstag-Denkschrift vom 3. 8. 1914; <br>
Rotbuch 1919, I, Nr. 6). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Hinsichtlich der speziellen Vorschläge Österreich-Ungarns <br>
wurden deutscherseits zwar Bedenken gegen einen Anschluß <br>
Bulgariens an den Dreibund erhoben, schließlich diesem aber <br>
zugestimmt. Die Berliner Regierung wollte jedoch ihre früheren <br>
guten Beziehungen zu Rumänien nicht aufgeben, ohne noch ein- <br>
mal den Versuch zu machen, Rumänien vom Anschluß an einen <br>
den Mittelmächten feindlichen Balkanbund abzuhalten. Sie <br>
verlangte auch, daß der Vertrag mit Bulgarien keine Spitze gegen <br>
Rumänien haben dürfe. Eine Stellungnahme zur schwebenden <br>
österreichisch-serbischen Frage, also eine Erörterung der Mittel <br>
und Wege, wurde ausdrücklich abgelehnt, Österreich-Ungarn <br>
jedoch nahegelegt, rasch zu handeln, um für seine Aktion gegen <br>
Serbien die günstige Konstellation des Augenblickes auszunutzen. <br>
Dieser letztere Rat, der politisch zweifellos richtig war, ist im Laufe <br>
der nächsten Wochen mehrfach wiederholt worden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Bei diesem entscheidenden Wendepunkt vom 5. und 6. Juli <br>
ist zunächst festzustellen, daß von der Absicht, einen allgemeinen <br>
Krieg zu entfesseln, wie die Entente dies unterstellt hat, keine <br>
Rede gewesen ist. Dies zeigt einmal, daß in Wien und Berlin <br>
Pläne einer Balkanpolitik in Aussicht genommen wurden, die zu <br>
ihrer Verwirklichung längere Zeit erforderten. Über die Möglich- <br>
keit, daß aus einer österreichisch-ungarischen Aktion gegen Serbien <br>
ein allgemeiner Krieg entstehen könne, war man sich natürlich im <br>
klaren. Von einem dolus eventualis der deutschen Regierung zu <br>
sprechen, ist nicht berechtigt, denn dieser juristische Begriff ist <br>
auf politische Erwägungen nicht anwendbar, bei denen natur- <br>
gemäß alles relativ ist. Die Gefahr der Entfesselung eines euro- <br>
päischen Krieges bestand seit Jahren bei jeder politischen Aktion. <br>
Selbst die Entsendung der Militärmission nach der Türkei hat im <br>
Januar 1914 fast zum europäischen Kriege geführt, und es ist sehr <br>
zu fürchten, daß sich die europäischen Staatsmänner allzusehr <br>
an den Gedanken der immer vorhandenen Kriegsgefahr gewöhnt <br>
hatten. Für die Beurteilung der deutschen Politik zu Anfang des <br>
Juli 1914 ist nicht ausschlaggebend, ob sie die Möglichkeit eines <br>
Krieges voraussah, sondern, wie ernst sie diese Gefahr einschätzte. <br>
Hierüber geben die Akten genügenden Aufschluß. Offensichtlich <br>
sah man eine Gefahr für den Frieden nur auf Seiten Rußlands. <br>
Ein Eingreifen seitens Englands erwartete man nicht, und merk- <br>
würdigerweise hat man auch von französischer Seite nichts be- <br>
fürchtet. Über die Haltung der Petersburger Regierung scheint <br>
die übereinstimmende Ansicht geherrscht zu haben, daß Rußland <br>
nicht genügend gerüstet sei und deshalb keinen Krieg führen könne <br>
und werde. Zudem setzte man außerordentlich große und, wie <br>
sich bald zeigen sollte, ganz ungerechtfertigte Hoffnungen auf das <br>
Gefühl monarchischer Solidarität, das den Zaren abhalten werde, <br>
„sich auf die Seite der Prinzenmörder zu stellen". <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß in den Dokumenten <br>
die Erörterung der Kriegsgefahr vermutlich mehr Raum einnimmt, <br>
als den Umständen entsprach. Denn der ungünstigste Fall wird <br>
stets ausführlich behandelt, während man die Selbstverständlich- <br>
keiten einer günstigen Lösung kaum berührt. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die deutsche Regierung hat aus den wesentlichsten Ge- <br>
sichtspunkten ihrer damaligen Haltung kein Hehl gemacht. In <br>
der Reichstags-Denkschrift vom 3. August 1914 wurde über die <br>
Lage zu Anfang Juli zutreffend gesagt: <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;„Die k. u. k. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung (daß <br>
es weder mit der Würde nocli mit der Selbsterhaltung der Monarchie verein- <br>
bar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen) <br>
und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundes- <br>
genossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben <br>
und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen <br>
den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu <br>
machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt, <br>
daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien <br>
Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer Bundespflicht ent- <br>
sprechend, in einen Krieg verwickeln könnte. Wir konnten aber in der Erkennt- <br>
nis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, <br>
unserem Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu verein- <br>
barenden Nachgiebigkeit raten, noch auch ihm unseren Beistand in diesem <br>
schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere <br>
Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste <br>
bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe <br>
noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie <br>
zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs <br>
und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russischem Szepter <br>
zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa <br>
unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des <br>
russischen Panslawismus zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein <br>
Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns ver- <br>
lassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung <br>
unserer östlichen und westlichen Nachbarn müssen. Wir ließen daher Öster- <br>
reich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien. Wir haben an den Vor- <br>
bereitungen dazu nicht teilgenommen." <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die deutsche Regierung hat bei der Aufstellung der an Serbien <br>
zu richtenden Forderungen nicht mitgewirkt und hat dadurch <br>
in kurzsichtiger Weise die Mitverantwortung zu vermeiden ge- <br>
sucht. Bereits am 4. Juli schrieb der Kaiser an den Rand eines <br>
Berichtes aus Wien (Weißbuch Nr. 7) : Es sei „lediglich Österreichs <br>
Sache, was es zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenns <br>
schief geht, Deutschland hat nicht gewollt." Die Haltung der <br>
deutschen Regierung Österreich-Ungarn gegenüber hat der baye- <br>
rische Gesandte in Wien, Freiherr von Tucher, seinerzeit sehr <br>
treffend gekennzeichnet : <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;„Unsere Stellung Österreich-Ungarn gegenüber ist sehr heikel; wir müssen <br>
uns hüten, seine Empfindlichkeit zu verletzen, und bei Fragen dieser Art ent- <br>
halten wir uns sorgfältig, ihm Ratschläge im einen oder im anderen Sinne zu <br>
erteilen, um uns nicht in der Folge Vorwürfen auszusetzen, falls die Ereignisse <br>
eine unerwünschte Wendung nehmen. Auch diesmal hat Deutschland seinem <br>
Verbündeten erklärt, dieser müsse lediglich seine eigenen Interessen berück- <br>
sichtigen und so handeln, wie er es für notwendig erachte. Es hat sich darauf <br>
beschränkt, hinzuzufügen, daß es ihm nötigenfalls zur Seite stehen würde." <br>
(Bericht des belgischen Gesandten in Wien vom 27. Juli 1914, Nr. 403/149, <br>
Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1919.) <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die deutsche Regierung ist gemäß den bei Beginn der Krise <br>
mit Wien vereinbarten Richtlinien vorgegangen, Sie hat ihren <br>
Gesandten in Bukarest und Sofia entsprechende Weisungen <br>
erteilt und sich, von gelegentlichen Warnungen an Serbien abge- <br>
sehen, der Einmischung in die serbische Frage enthalten. Die <br>
Wiener Regierung machte allerdings den Versuch, Berlin zur <br>
Stellungnahme zu veranlassen. Am 10. Juli telegraphierte der <br>
deutsche Botschafter in Wien, Berchtold würde gern wissen, wie <br>
man in Berlin über die Formulierung geeigneter Forderungen <br>
gegenüber Serbien denke. Er meinte, man könnte unter anderem <br>
verlangen, daß in Belgrad ein Organ der österreichisch-ungarischen <br>
Regierung eingesetzt werde, um von dort aus die großserbischen <br>
Umtriebe zu überwachen (der spätere Punkt 5 der Note), eventuell <br>
auch die Auflösung von Vereinen (Punkt 2) und Entlassung <br>
einiger kompromittierter Offiziere (Punkt 4). Die Frist zur Be- <br>
antwortung müsse möglichst kurz bemessen werden, wohl mit <br>
48 Stunden (Weißbuch Nr. 29). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wie aus dem Bericht des bayerischen Geschäftsträgers vom <br>
18. Juli (Weißbuch, Anhang IV, Nr. 2) bekannt ist, hatte man in <br>
Berlin Kenntnis von weiteren Punkten der beabsichtigten öster- <br>
reichisch-ungarischen Note, und zwar von der Forderung einer <br>
Proklamation und von den späteren Punkten 6 und 4. Woher <br>
diese Kenntnis stammte, ist weder aus den deutschen, noch aus <br>
den österreichisch-ungarischen Akten ersichtlich. Demnach war <br>
in Berlin über die Note bekannt: die Absicht, sie auf 48 Stunden <br>
zu befristen, die Forderung einer Proklamation (die von Serbien <br>
angenommen wurde), die Punkte 2, 4, 5 und 6 in Umrissen. (Von <br>
diesen wurde Punkt 2 angenommen, gegen Punkt 4, 5 und be- <br>
sonders 6 wurden mehr oder weniger ernste Bedenken erhoben.) <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wie aus dem Blaubuch (Nr. 161) bekannt ist, hat der eng- <br>
lische Botschafter in Wien bereits am 16. Juli telegraphisch über <br>
die beabsichtigte österreichisch-ungarische Demarche berichtet <br>
(siehe auch Oman, S. 14), und der französische Konsulatskanzler <br>
in Wien, der vielleicht einen tschechischen Freund im Ministerium <br>
des Äußeren hatte, schrieb am 20. Juli einen Bericht über die be- <br>
absichtigte Note, der den Inhalt der Punkte 1, 2 und 3 und 8 <br>
ziemlich zutreffend wiedergibt (Gelbbuch Nr. 14). Paris war <br>
demnach annähernd ebenso gut unterrichtet wie Berlin. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die deutsche Regierung lehnte es am 11. Juli ab, zu Berchtolds <br>
Fragen Stellung zu nehmen (Weißbuch Nr. 31) und beschränkte <br>
sich darauf, nach Möglichkeit für einen glatten Verlauf der Krise <br>
zu sorgen. So erteilte sie den Rat, den geplanten Schritt vor der <br>
Öffentlichkeit eingehend zu begründen und befürwortete den <br>
österreichisch-ungarischen Entschluß, die Abreise Poincarés aus <br>
Petersburg abzuwarten, damit nicht in der damaligen Verbrüde- <br>
rungsstimmung dort übereilte Schritte beschlossen würden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die verantwortlichen Persönlichkeiten in Berlin hätten eine <br>
baldige Demarche in Belgrad begrüßt, weil diese naturgemäß <br>
unter dem frischen Eindruck des Attentats von Sarajevo mehr <br>
Verständnis und Sympathie finden mußte, und haben auch dieser <br>
Auffassung wiederholt Ausdruck gegeben. Ferner zeigten sie <br>
eine nur aus der noch unbekannten Geschichte der deutsch-öster-<br> 
reichischen Beziehungen begreifliche Sorge, in Wien nicht als <br>
hemmender Faktor zu erscheinen (Weißbuch Nr. 61, 70). Eine <br>
Beeinflussung Österreich-Ungarns durch die Berliner Regierung <br>
im Sinne einer Verschärfung der zu stellenden Forderungen ergibt <br>
sich, wie gesagt, aus den deutschen Akten nicht. Berlin hat keinen <br>
direkten Einfluß auf den Inhalt der Note an Serbien ausgeübt. <br>
Auch der deutsche Botschafter in Wien hat an den Beratungen <br>
über die in Belgrad zu stellenden Forderungen nicht teilgenommen. <br>
Dies bestätigte übrigens Tisza kurz vor seinem Tode in einer Rede <br>
im ungarischen Abgeordnetenhause am 22. Oktober 1918. Bis <br>
er durch das Telegramm vom 6. Juli (Weißbuch Nr. 15) verständigt <br>
wurde, daß Deutschland „zu den zwischen Österreich-Ungarn <br>
und Serbien schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung <br>
nehme", hat Tschirschky in Wien zur Mäßigung und Vorsicht ge- <br>
raten. Bereits am 30. Juni berichtet er, daß er jeden Anlaß be- <br>
nutze, um nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu <br>
warnen (Weißbuch Nr. 7). Er empfahl, vor allem die europäische <br>
Gesamtlage in Rechnung zu ziehen. Ähnlich äußerte er sich am <br>
2. Juli dem Kaiser Franz Joseph gegenüber (Weißbuch Nr. 11). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;In Berlin war aus den Berichten Tschirschkys bekannt, daß <br>
Berchtold persönlich eine kriegerische Lösung des Konfliktes be- <br>
vorzugte. Ebenso wußte man, daß Tisza zur Mäßigung riet. <br>
In diesen Konflikt der Meinungen wurde deutscherseits nicht ein- <br>
gegriffen. Die deutsche Regierung scheint selbst der Auffassung <br>
gewesen zu sein, daß eine Lösung des österreichisch-serbischen <br>
Konfliktes ohne kriegerische Auseinandersetzung möglich sei, <br>
wenn Serbien sich bereit erklärte, die Mordtat von Sarajevo zu <br>
sühnen und ausreichende Garantien für die Zukunft zu geben*). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Zeigte sich Serbien nicht gewillt, die diesbezüglichen österreichisch- <br>
ungarischen Forderungen zu erfüllen, so sah man in Berlin in der <br>
Anwendung militärischer Zwangsmittel offenbar ein geringeres <br>
Übel als in der Fortdauer des durch die großserbischen Um- <br>
triebe geschaffenen Zustandes dauernder Beunruhigung. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Da über die Absichten der Wiener Regierung und den Inhalt <br>
der Note nichts Näheres bekannt war (Weißbuch Nr, 61), wurde <br>
deutscherseits am 19. Juli telegraphisch um Mitteilung ihres <br>
Wortlautes gebeten (Weißbuch Nr. 77). Dieser lag aber erst <br>
am Abend des 22. Juli in Berlin vor*). Da die Note, wie der <br>
österreichisch-ungarische Botschafter erklärte, bereits nach Belgrad<br> 
abgegangen war (am 20. Juli! — Rotbuch 1919, I, Nr. 27), wäre <br>
es nicht möglich gewesen, eine Abänderung ihres Wortlautes zu <br>
erwirken. Die österreichisch-ungarischen Forderungen wurden <br>
jedoch von Bethmann Hollweg und von Jagow als zu weitgehend <br>
und die Sprache der Note als zu scharf beurteilt**). Daß man in <br>
Berlin den Vertretern des Dreiverbandes von dieser Einschätzung <br>
keine Mitteilung machte, ist ganz natürlich. Die Meldung: Szö- <br>
gyenys, Jagow habe ihm versichert, „daß die deutsche Regierung <br>
mit dem Inhalt dieser Note selbstverständlich ganz einverstanden <br>
sei" (Rotbuch 1919, II, Nr, 6), stimmt mit der Darstellung Jagows <br>
nicht überein. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Bei der Haltung der Belgrader Regierung in der Vergangenheit <br>
sowohl wie während der Krisis 1914 konnte es deutscherseits <br>
nicht als wahrscheinlich angesehen werden, daß Serbien den Wiener <br>
Forderungen nachkommen würde. Von vornherein war also damit <br>
zu rechnen, daß militärische Operationen Österreich-Ungarns <br>
gegen Serbien stattfinden würden. Es verdient aber hervorgehoben <br>
zu werden, daß die deutsche Regierung keineswegs einen Krieg <br>
gegen Serbien unter allen Umständen wünschte oder gar ihn <br>
herbeizuführen suchte. Dies geht zur Genüge aus ihrer Stellung- <br>
nahme zur serbischen Antwortnote hervor, (Siehe die Rand- <br>
bemerkung des Kaisers unter der serbischen Antwortnote Weiß- <br>
buch Nr. 271, sein Schreiben an Jagow vom 28.Juli, Weißbuch <br>
Nr. 293, das Schreiben des Generals von Plessen an den General- <br>
stabschef vom gleichen Tage, „Deutsche Politik", IV, 29, vom <br>
28. 7. 1919, und das Telegramm des Reichskanzlers nach Wien, <br>
ebenfalls vom 28. Juli, Weißbuch Nr. 323.) <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Haltung der deutschen Regierung in der Zeit bis zum <br>
österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien setzt sie mancher- <br>
lei berechtigten Kritik aus. Das letzte Wort hierüber wird aber <br>
erst nach der Vernehmung der Beteiligten zu sagen sein. Zu <br>
allen wesentlichen Punkten der Anklagen der Entente kann man <br>
jedoch heute bereits Stellung nehmen. In ihrer Note vom 16. Juni <br>
1919 haben die Alliierten und Assoziierten Mächte behauptet, <br>
„während langer Jahre hätten die Regierenden Deutschlands, <br>
getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa <br>
angestrebt. ... Sie hätten getrachtet, sich dazu fähig zu machen, <br>
ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren.... <br>
Als sie festgestellt hätten, daß ihre Nachbarn entschlossen wären, <br>
ihren anmaßenden Plänen Widerstand zu leisten, da hätten sie <br>
beschlossen, ihre Vorherrschaft mit Gewalt zu begründen". <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;In den deutschen und österreichisch-ungarischen Akten findet <br>
sich nicht der geringste Beleg für diese Behauptungen. Deutscher- <br>
seits ist die Aktion gegen Serbien stets nur als Präventivmaßnahme <br>
betrachtet worden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ferner haben die Alliierten und Assoziierten Mächte in ihrer <br>
Antwort auf die deutschen Gegenvorschläge erklärt: Die Mittel- <br>
mächte hätten versucht, „die Lösung einer europäischen Frage <br>
den Nationen Europas durch die Drohung eines Krieges aufzu- <br>
zwingen.... Die serbische Frage wäre nicht und hätte niemals <br>
eine rein österreichisch-serbische Frage sein können .... Sie war <br>
ihrem Wesen nach eine europäische Frage, da sie die Kontrolle <br>
des Balkans aufs Spiel setzte und daher nicht nur den Frieden <br>
auf dem Balkan, sondern den ganz Europas betraf". <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Berechtigung dieser Auffassung vom Standpunkt des <br>
Dreiverbandes aus läßt sich vertreten, sobald man zugibt, daß <br>
Serbien der Exponent einer aggressiven Balkänpolitik <br>
des Dreiverbandes war. Sicher ist aber, daß man in Berlin im <br>
Juli 1914 nicht eine Lösung der serbischen Frage im Sinne einer <br>
europäischen Balkanfrage anstrebte, sondern allein eine nach- <br>
haltige Klärung der unhaltbar gewordenen austro-serbischen <br>
Beziehungen. Gewiß kann man der deutschen Regierung den <br>
Vorwurf machen, daß sie die europäische Gesamtlage nicht richtig <br>
einschätzte. Die Unterstellung weitgehender Pläne, die ihr jetzt <br>
nachträglich von ihren Gegnern vorgeworfen werden, entbehrt <br>
jedoch offensichtlich jeder Begründung. Vergegenwärtigt man <br>
sich all die Hilflosigkeit, Angst und Planlosigkeit, die in dem <br>
deutschen Aktenmaterial offenbar wird, dann wirkt die Auffassung <br>
der Alliierten und Assoziierten Mächte wie ein Hohn, wenn diese <br>
in der vorgenannten Denkschrift behaupten : „Das autokratische <br>
Deutschland wollte unter dem Einfluß seiner Lenker mit aller <br>
Macht die Vorherrschaft erlangen. Die Nationen Europas waren <br>
entschlossen, ihre Freiheit zu retten. Die Furcht der Führer <br>
Deutschlands, es möchten ihre Pläne der Weltherr- <br>
schaft durch die wachsende Flut der Demokratie zunichte <br>
gemacht werden, führte sie dazu, alle ihre Bemühungen darauf <br>
zu richten, jeden Widerstand mit einem Streiche zu brechen, indem <br>
sie Europa in einen Weltkrieg stürzten... In der Erkenntnis, <br>
daß es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf und be- <br>
gann Deutschland den Krieg". Wenn diese Absichten bestanden <br>
hätten, müßten sie sich bereits in der Zeit vor der Überreichung <br>
des österreichisch - ungarischen Ultimatums deutlich offenbaren. <br>
Wir finden aber in den Akten ebensowenig Spuren von Plänen <br>
der Weltherrschaft wie von der wachsenden Flut der Demokratie. <br>
Die internen Meinungsäußerungen der Dreiverbandsmächte lassen <br>
sich weit eher als autokratisch, denn als demokratisch be- <br>
zeichnen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Schließlich ist die Pariser Schuldkommission in ihrem Bericht <br>
vom 29. März 1919 zu dem Ergebnis gekommen: „Der Krieg ist <br>
von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der <br>
Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden. Er ist <br>
das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht <br>
begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen". Von diesem <br>
Vorsatz zum Weltkriege fehlt, wie gesagt, in dem deutschen Ur- <br>
kundenmaterial jede Spur. Daß die Türken und Bulgaren an <br>
der Entstehung des Weltkrieges nicht beteiligt waren, ist nun- <br>
mehr ebenfalls erwiesen. Die Berliner und Wiener Absichten, <br>
die auf einem Anschluß Bulgariens und der Türkei an den Drei- <br>
bund abzielten, sollten in einer Zeit verwirklicht werden, die erst <br>
nach der Regelung des austro-serbischen Konfliktes lag. Eine <br>
Berechtigung der Hauptanklagen unserer Gegner kann also nicht <br>
zugegeben werden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Von anderer, namentlich von deutscher Seite ist ferner der <br>
Vorwurf, der nicht immer als Vorwurf gemeint ist, erhoben worden, <br>
die deutsche Regierung hätte einen Präventivkrieg plan- <br>
mäßig herbeigeführt. Die Anhänger dieser Auffassung berufen <br>
sich unter anderem auf die Reichstags-Denkschrift vom 3. August <br>
1914, in der es heißt: „Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß <br>
ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen <br>
Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer <br>
Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte". <br>
Diese Schlußfolgerung läßt aber außer acht, daß eine Kriegsgefahr <br>
in jenen Jahren immerwährend bestand. In der Politik ist alles <br>
relativ. Es darf daher nicht gefragt werden: Bestand bei einem <br>
Vorgehen gegen Serbien die Gefahr eines Weltkrieges? Die Frage <br>
muß vielmehr lauten: Wie groß war diese Gefahr, bzw. wie hoch <br>
wurde sie deutscherseits eingeschätzt? Nun hat die deutsche <br>
Regierung ganz offensichtlich geglaubt, daß Rußland nicht ge- <br>
nügend gerüstet sei und deshalb auch nicht zum Kriege schreiten <br>
werde. Dies geht nicht nur aus deutschen Aktenstücken, sondern <br>
auch aus denen unserer Gegner hervor (z. B. aus Blaubuch Nr. 32, <br>
161). An die Möglichkeit, daß Frankreich und England vielleicht <br>
die Gelegenheit benutzen würden, einen Krieg herbeizuführen, <br>
falls Österreich-Ungarns Vorgehen Deutschland ins Unrecht setzte, <br>
hat man offenbar überhaupt nicht gedacht; ebensowenig daran, <br>
daß Österreich-Ungarn weitergehende Pläne haben könnte, als die, <br>
welche es nach Berlin mitteilte. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Regierung Bethmann Hollwegs hat zweifellos viele Mängel <br>
gehabt. Durch bewußten Leichtsinn wird sie aber nicht gekenn- <br>
zeichnet. Deshalb muß man als sicher annehmen, daß sie für einen <br>
beabsichtigten Präventivkrieg Vorbereitungen getroffen haben <br>
würde. Von derartigen Vorbereitungen ist aber nichts bekannt. <br>
Im Gegenteil wissen wir, daß Maßnahmen, die im Falle eines bevor- <br>
stehenden Krieges unerläßlich gewesen wären, nicht ausgeführt <br>
worden sind. Es sei nur an die obenerwähnte Verproviantierung <br>
der Festungen Straßburg und Neubreisach erinnert. Tisza hat am <br>
1. Juli gefordert, daß, wenn es zum Kriege kommen solle, vorerst <br>
eine diplomatische Konstellation geschaffen werden müßte, welche <br>
das Kräfteverhältnis weniger ungünstig für die Mittelmächte ge- <br>
staltete (Rotbuch 1919, I, Nr. 2). Diese Forderung ist so selbst- <br>
verständlich, daß sich aus ihrer Nichterfüllung folgern läßt, die <br>
Absicht eines europäischen Krieges habe in Berlin nicht bestanden. <br>
Das Verhalten der Ententemächte zur Zeit der Balkankriege ver- <br>
anschaulicht, was Tisza mit diplomatischer Vorbereitung eines <br>
Krieges meinte. Nach Vermittelung des grundlegenden serbisch- <br>
bulgarischen Vertrages umspannte Rußland im Sommer 1912 <br>
den Balkan mit einem ganzen Netz von Bündnissen und <br>
Militärkonventionen. Dann schloß es am 8. Juli einen Ge- <br>
heimvertrag mit Japan, der ihm den Rücken sicherte. Am <br>
16. Juli desselben Jahres wurde das erste russisch-französische <br>
Marine- Abkommen getroffen, das durch englisch-französische Ab- <br>
machungen ergänzt wurde, denen die englisch-russische Aussprache <br>
vom September 1912 folgte (Besuch Sasonows in Baimoral, 23. bis <br>
28. September). Ihren Abschluß scheint diese Entwickslung <br>
in der diplomatischen Bestätigung der militärischen und maritimen <br>
Abmachungen zwischen England und Frankreich durch den be- <br>
kannten Notenwechsel vom 22. und 23, November 1912 gefunden <br>
zu haben. Wenn die deutsche Regierung den Weltkrieg auch <br>
nur im Sinne eines Präventivkrieges gewollt hätte, mußte sie ähn- <br>
liche Vorbereitungen treffen. Dies ist jedoch offenbar nicht <br>
geschehen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Selbst die beabsichtigte Defensiv-Aktion gegen Serbien hätte <br>
diplomatisch besser vorbereitet werden mässen. Berlin hat auch <br>
in dieser Hinsicht eingegriffen, als es sah, daß Wien das Notwen- <br>
digste versäumte. Am 15. Juli wies Jagow den deutschen Bot- <br>
schafter in Wien an, die dortige Regierung darauf hinzuweisen, <br>
daß es unerläßlich sei, sich mit Italien über die Aktion gegen <br>
Serbien zu verständigen, die Frage der Kompensationen, des Ar- <br>
tikels VII des Dreibundvertrages und des Bündnisfalles zu regeln <br>
(Weißbuch Nr. 46). In der Folgezeit ist in dieser Hinsicht deutscher- <br>
seits noch viel veranlaßt worden, und fast der ganze Schriftwechsel <br>
zwischen Berlin und Rom behandelt die Frage der Kompensation <br>
für Italien. Berchtold hat aber für den von Jagow vertretenen, <br>
durchaus richtigen Gesichtspunkt kein Verständnis gezeigt. Wie <br>
aus dem neuen österreichischen Rotbuch hervorgeht, hat auch <br>
der Botschafter Merey in Rom in dieser Hinsicht eine unheilvolle <br>
Rolle gespielt (Rotbuch 1919, II, Nr. 50, 85, 86, III, Nr. 10, 60). <br>
Noch am 28. Juli vertrat er den Standpunkt: „Mein ceterum censeo <br>
ist, Kompensationsansprüche rundweg in Abrede zu stellen und <br>
uns ja in keine heiklen Verhandlungen oder Engagements einzu- <br>
lassen." Diese Verhandlungen betrafen aber immer nur die Stellung- <br>
nahme Italiens zum austro-serbischen Konflikt. Erst am 30. Juli <br>
ist davon die Rede, daß Österreich-Ungarn seinen Standpunkt <br>
in der Kompensationsfrage wegen der italienischen Haltung im <br>
drohenden Weltkriege aufgeben bzw. abändern müsse (Rotbuch <br>
1919, III, Nr. 32). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;I Die beabsichtigte Annäherung an Bulgarien trug eben- <br>
falls nicht den Charakter einer Vorbereitung auf den Weltkrieg. <br>
Der geplante Bündnisschluß wurde zunächst auf unbestimmte <br>
Zeit verschoben (Weißbuch Nr. 19,21,22; Rotbuch 1919, I, Nr. 11). <br>
Um eine Ausdehnung des Konfliktes zu verhüten, wurden sehr <br>
zahlreiche Schritte unternommen, die die Neutralität Bulgariens <br>
in dem österreichisch - serbischen Streit zum Ziel hatten. In der <br>
ersten Periode der Krisis geschah dies lediglich in dem Streben <br>
nach Lokalisierung, später allerdings erschien die neutrale Haltung <br>
Bulgariens als Vorbedingung für die Bündnistreue Rumäniens <br>
(Weißbuch Nr. 544, 549). Auf Bulgarien, einen für den Weltkrieg <br>
wertvollen Bundesgenossen, hat man in dieser Periode offensicht- <br>
lich nicht gerechnet. Nur einmal — am 26. Juli — erkundigte <br>
sich Jagow in Wien nach dem Stand der Angelegenheit (Weiß- <br>
buch Nr. 228). Die Verhandlungen über einen österreichisch- <br>
bulgarischen Vertrag haben bekanntlich erst am 2. August begonnen <br>
(Weißbuch Nr. 673). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Im Falle der Absicht eines Weltkrieges hätte Deutschland <br>
sich gewiß auch frühzeitig die Unterstützung der Türkei ge- <br>
sichert. Am 14. Juli wurde jedoch die Frage des Anschlusses der <br>
Türkei an den Dreibund verneint. Wie aus dem Telegramm Jagows <br>
nach Wien und Konstantinopel hervorgeht, rechnete dieser damals <br>
nicht mit einem Weltkriege (Weißbuch Nr. 45). Im ersten Stadium <br>
der Verhandlungen war überdies nur von einem Anschluß der <br>
Türkei an Österreich - Ungarn die Rede. Die Anregung zu einem <br>
deutsch - türkischen Bündnis gegen Rußland ging von der Türkei <br>
aus (Weißbuch Nr. 285). Deutscherseits wurde dieser Vorschlag <br>
am 28. Juli angenommen (Weißbuch Nr. 320). Da aber der mili- <br>
tärische Wert des türkischen Bündnisses sehr gering eingeschätzt <br>
wurde, ist anzunehmen, daß bei diesem Vertragsschluß die Furcht <br>
vor einem Abschwenken der Türkei zum Dreiverband (siehe <br>
Randvermerk des Kaisers zu Weißbuch Nr. 149), und nicht <br>
der Gedanke, die Zahl der Mitkämpfer zu erhöhen, den Aus- <br>
schlag gab. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wäre deutscherseits ein Präventivkrieg geplant worden, <br>
dann hätte man sich in erster Linie der Bundestreue Rumä- <br>
niens versichert. Nichts dergleichen geschah. Alle beabsich- <br>
tigten und vollzogenen Verhandlungen mit Rumänien drehten <br>
sich um die Frage der künftigen politischen Zusammenhänge auf <br>
dem Balkan. Vom Kriege und Rumäniens Teilnahme am Kriege <br>
ist in der Zeit vor dem Wiener Ultimatum niemals die Rede ge- <br>
wesen. Am 26. und wiederum am 29. Juli bat die rumänische <br>
Regierung, „rechtzeitig informiert zu werden, wenn die Ereignisse <br>
zum Kriege drängen sollten" (Weißbuch Nr. 208, 351). Eine Ant- <br>
wort ist anscheinend nicht gegeben worden. Die Frage des Bündnis- <br>
falles und des rumänischen Eingreifens in den Krieg wurde erst nach <br>
der allgemeinen russischen Mobilmachung zur Sprache gebracht <br>
(Weißbuch Nr. 506, 582). <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Von deutschen militärischen Maßnahmen aus dieser Zeit ist <br>
nichts bekannt; dasselbe gilt von wirtschaftlichen Kriegsvorbe- <br>
reitungen. Gewiß war „das Heer, wie immer, bereit", wie der <br>
Generalleutnant Graf Waldersee in seinem Schreiben vom 25. Ok- <br>
tober 1919 (Weißbuch, Band I, Seite XV) sagte. Im Falle eines <br>
beabsichtigten Krieges gibt es jedoch neben der allgemeinen Be- <br>
reitschaft der Armee zahllose militärpolitische Maßnahmen, die <br>
getroffen werden müssen. Wir wissen aber aus dem ersten Ent- <br>
wurf eines Schreibens des Generals Conrad vom 1. August (Gooss, <br>
Seite 311), daß bis zu diesem Tage nicht einmal eine Verständigung <br>
zwischen den deutschen und österreichisch-ungarischen General- <br>
stäben über den Aufmarsch gegen Rußland herbeigeführt worden <br>
war. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Gewiß zeugen alle diese Tatsachen gegen die Behauptung, <br>
Deutschland habe den Weltkrieg gewollt, bzw. einen Präventiv- <br>
krieg herbeigeführt. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß <br>
sich die Reichsregierung in eine außerordentlich große Gefahr <br>
begeben hat, ohne genügende politische und militärische Vorbe- <br>
reitungen getroffen zu haben. Es wäre sehr viel besser gewesen, <br>
der so oft behauptete Potsdamer Kronrat hätte stattgefunden, <br>
und es spricht für die bessere politische Schulung unserer Gegner, <br>
daß sie so lange an diesem Märchen festgehalten haben und gar <br>
nicht fassen können, daß Deutschland bei Kriegsausbruch derartig <br>
mangelhaft vorbereitet war. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der Weltkrieg ist aus dem österreichisch-ungarischen Kriege <br>
gegen Serbien hervorgegangen, und an der Entstehung des letzteren <br>
ist die deutsche Regierung zweifellos mitschuldig. Daraus zu <br>
folgern, daß sie den Weltkrieg verschuldet habe, wäre nur zulässig, <br>
wenn einwandfrei festgestellt würde, daß die europäische Kon- <br>
flagration eine unausbleibliche und unabwendbare Folge <br>
des österreichisch - ungarischen Vorgehens gegen Serbien war. <br>
Dieser Nachweis ist noch nicht erbracht. Die Berliner Regierung <br>
scheint sich jedenfalls zugetraut zu haben, die Gefahr des Welt- <br>
krieges bannen zu können. Dies Problem gehört zu den politischen <br>
Wahrscheinlichkeitsrechnungen, für die es eine objektive Lösung <br>
nicht gibt. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die deutsche Regierung hat ihre Einwilligung zu einem Kriege <br>
Österreich-Ungarns gegen Serbien gegeben. Das Ziel, das ihr <br>
hierbei vorschwebte, war einzig und allein die Unterdrückung <br>
der großserbischen Bewegung, zur Erhaltung des Bestandes und <br>
der Bündnisfähigkeit der Donaumonarchie. Es fragt sich zunächst, <br>
v/eshalb Deutschland seinen Verbündeten in dieser ihn nur mittel- <br>
bar berührenden Angelegenheit unterstützte, und ob es notwendig <br>
war, wegen der serbischen Frage Gefahren zu laufen. Das letztere <br>
wird von der weiteren Frage der Notwendigkeit seiner Aktion ab-<br> 
hängen. Darüber, daß Deutschland „im Einklang mit seinen <br>
Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an der Seite <br>
Österreich-Ungarns stehen werde", bestand damals weder bei der <br>
Regierung, noch — daran sei besonders erinnert — bei der deutschen <br>
Öffentlichkeit der geringste Zweifel. Tschirschky hat bereits <br>
am 2. JuU erklärt, Kaiser Franz Joesph könne „sicher darauf <br>
bauen, Deutschland geschlossen hinter der Monarchie zu finden <br>
sobald es sich um die Verteidigung eines ihrer Lebensinteressen <br>
handele" (Weißbuch Nr. 11). Was Tschirschky hier o h n e&nbsp; A u f <br>
t r a g&nbsp; erklärte, war richtig, selbst im weitesten Sinne, wenn dies <br>
auch heute mancher nicht wahr haben mag. Ebenso haben offenbar <br>
weder der Kaiser, noch der Kanzler, noch das Auswärtige Amt <br>
am 5. und 6. Juli irgendwie gezögert, die deutsche Unterstützung <br>
zuzusagen. Klug und überlegt war diese Haltung wohl nicht, sie <br>
entsprach aber jedenfalls dem Empfinden der allgemeinen Meinung <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Sodann ist die Frage zu stellen, ob ein Vorgehen gegen <br>
Serbien von dem Gesichtspunkte der Erhaltung Österreich- <br>
Ungarns aus notwendig war. In Berlin und Wien hat man diese <br>
Frage seinerzeit übereinstimmend bejaht. Daß Österreich-Ungarn <br>
Grund und Anlaß hatte, gegen Serbien vorzugehen, ist früher auch <br>
in anderen Ländern anerkannt worden. Zum Beispiel hat das eng- <br>
lische Ministerium des Äußeren selbst nach Kriegsausbruch dies <br>
nicht bestritten. Es heißt in der Einleitung zum Blaubuch: „Öster- <br>
reich war provoziert. Es hatte über eine gefährliche Volksbewegung <br>
gegen seine Regierung zu klagen." Im übrigen scheinen die rus- <br>
sischen und serbischen Veröffentlichungen die Auffassung der <br>
österreichisch - ungarischen Regierung zu rechtfertigen. Die En <br>
tentemächte nehmen heute den entgegengesetzten Standpunkt <br>
ein. Sie sind aber Partei, da sie zum Teil Anstifter Serbiens waren <br>
während den Mittelmächten als Geschädigten ebenfalls das objek <br>
tive Urteil mangelt. Dieses kann erst die Geschichte fällen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ferner fragt es sich, ob bei dem beabsichtigten Vorgehen <br>
gegen Serbien Methoden vorgesehen wurden, die zu den damals <br>
üblichen und erlaubten gehörten. Dies wird man an der Hand <br>
der eben (S. 20) angeführten Beispiele kaum verneinen können. <br>
Selbst im Rahmen des Pariser Völkerbundes ist der Krieg als Mittel <br>
der Politik zulässig. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Schließlich und vor allem ist zu fragen, ob das Serbien gegen- <br>
über beabsichtigte Verfahren zweckentsprechend und daher politisch <br>
klug war. Dies muß verneint werden, und zwar nicht allein im <br>
Hinblick auf die eingetretenen Folgen. Jedoch fehlt jeder Anhalt <br>
für einen dolus malus der Beteiligten, <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Selbst die Notwendigkeit und (um von der Unzweckmäßig- <br>
keit abzusehen) die Zulässigkeit des Vorgehens gegen Serbien zu <br>
gegeben, bleibt aber unerklärlich, weshalb die Berliner Regierung <br>
Österreich-Ungarn ihre unbedingte Unterstützung gewährte, und <br>
weshalb sie — trotz des zu gewärtigenden Wiener Widerstrebens — <br>
nicht eine Kontrolle über das beabsichtigte Vorgehen ausbedungen <br>
hat. Gewiß, der Hochmut und die Empfindlichkeit der Hofburg <br>
kreise waren ungeheuer. Auch werden diese Wiener Herren wohl <br>
geltend gemacht haben, daß sie sich auf Balkanfragen besser ver- <br>
stünden und schon Ruhe schaffen würden, wenn man ihnen nur <br>
freie Hand Heße. Das genügt aber nicht als Erklärung. Entweder <br>
schenkte man in Berlin der Wiener Regierung ein unbegreifliches <br>
und ganz unverdientes Vertrauen, oder man sah den Bundesgenossen <br>
als so schwach an, daß sein größter Aufwand an Energie nur eben<br> 
dem gedachten Zweck genügen werde. Frühere Erfahrungen <br>
mögen auch gelehrt haben, daß man am Ballhausplatz wohl gerne <br>
große Worte machte, denen aber nicht die entsprechenden Taten <br>
folgen ließ. Tatsächlich war ja auch zuerst von einer völligen <br>
Aufteilung Serbiens die Rede (Weißbuch Nr. 18), während schließ- <br>
lich aus eigenem Antriebe Verzicht auf Annexionen ausgesprochen <br>
wurde — wenigstens Berlin gegenüber (Weißbuch Nr. 94). Auf <br>
jeden Fall ist aber diese Passivität der deutschen Regierung und <br>
die gleichmütige Aufnahme aller beunruhigenden Nachrichten <br>
aus Wien unbedingt zu verurteilen.<br>

<hr>
 *) „The Outbreak of the War of 1914-1918." Eine offiziöse Dar- <br>
stellung auf Grund der Akten des englischen Ministeriums des Äußern, die <br>
1919 erschien. 

 *) Der Bericht aus Wien vom 21. Juli (Weißbuch Nr. 106), mit dem der <br>
Text der Note eingereicht wurde, ist im Weißbuch als erstes Dokument vom <br>
22. Juli eingeordnet worden. Dadurch wird der Eindruck hervorgerufen, <br>
daß diese „nachmittags" registrierte Urkunde frühzeitig eingegangen sei. Dies <br>
ist nach Jagow: „Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges," Seite 109, nicht <br>
der Fall, denn sie wurde ihm erst in den Abendstunden vorgelegt (vgl. auch <br>
Rotbuch 1919, I, Nr. 46). <br>

 **) Vgl. Weißbuch, Anhang IX, Jagow, a. a. O., Bethmann Hollweg: <br>
„Betrachtungen zum Weltkriege", S. 138 f. — Die Darstellung Bethmanns <br>
und Jagows bestätigt eine Textveränderung bei der ersten Veröffentlichung <br>
des Runderlasses vom 21. Juli (Weißbuch Nr, 100). In diesem ohne Kenntnis <br>
des Wortlauts der Wiener Note geschriebenen Erlasse werden die österreichisch- <br>
ungarischen Forderungen als „billig und maßvoll" bezeichnet, in der Anlage <br>
zur Reichstagsdenkschrift vom 3. 8. 1914 dagegen nur als „gerechtfertigt".<br>

 *) Siehe Gelbbuch Nr. 9; serbisches Blaubuch Nr. 19, 26; Weiß- <br>
buch Nr. 91. <br>