3. England und Frankreich

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WWI Document Archive > Official Papers > Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 — Volume 5 (Commentary) > VII. Die Haltung Englands > 3. England und Frankreich


     Als Grey am 29. Juli dem französischen Botschafter die be-
deutungsvolle Mitteilung machte, er werde Deutschland warnen,
daß es im Kriegsfalle nicht auf Englands Neutralität zählen dürfe,
wies er ihn zugleich darauf hin, daß die öffentliche Meinung wenig
geneigt sein werde, wegen der serbischen Frage in einen Krieg
einzugreifen, in den Frankreich lediglich durch sein Bündnis mit
Rußland hineingezogen würde. Eine Verpflichtung bestehe für
England nicht, und er (Grey) müsse sich noch die Entscheidung
über das, was Englands Interesse geböte, vorbehalten (Blau-
buch Nr. 87).

     Daß es in Englands Belieben gestanden hätte, Frankreich
beizuspringen oder nicht, wäre wohl nur dem Buchstaben der
Vereinbarungen nach richtig gewesen. Denn schon die Tatsache,
daß Frankreich auf Grund der englisch-französischen Abmachungen
seine Flotte im Mittelmeer zusammengezogen hatte, begründete
für England eine Verpflichtung zum Schutze der französischen
Nordküsten, der sich keine englische Regierung jemals hätte ent-
ziehen können. Asquith erklärte am 2. August dem deutschen
Botschafter, durch zwei Dinge würde die „neutrale Haltung der
englischen Regierung sehr erschwert", durch die Verletzung der
Neutralität Belgiens und ,, durch einen etwaigen Angriff deutscher
Kriegsschiffe auf die gänzlich unbeschützte Nordküste Frank-
reichs, die die Franzosen in gutem Glauben auf
die britische Unterstützung zugunsten ihrer Mittel-
meerflotte entblößt hätten" (Weißbuch Nr. 676). Tatsächlich
hat ja England auch bereits am 2. August den Schutz der fran-
zösischen Küsten und der französischen Schiffahrt gegen die
deutsche Flotte förmlich übernommen (Blaubuch Nr. 148, Weiß-
buch Nr. 784), zu einem Zeitpunkt also, als Kriegszustand zwischen
Deutschland und Frankreich nicht bestand.

     Die geheimen englisch-französischen Abmachungen, welche
Armee und Marine betrafen, stammen aus der Zeit der ersten
Marokkokrise. Sie wurden im Laufe der Jahre ergänzt und 1912
durch einen Notenaustausch bestätigt. Wann sich die französische
Regierung zum erstenmal auf das ihr aus diesen Abmachungen
zustehende Recht auf englische Waffenhilfe berufen hat, ist nicht
bekannt. Nach Angabe des Blaubuches (Nr. 105) wäre dies am
30. Juli geschehen, also erst, nachdem (am 29. Juli) französischer-
seits in Petersburg die Erklärung abgegeben worden war, Ruß-
land könne „vollständig auf die Unterstützung des verbündeten
Frankreichs rechnen". (Orangebuch Nr. 58.) Die Anlage 3
der Nr. 105 des Blaubuches stellt aber eine notorische Fälschung
dar; es erscheint deshalb fraglich, ob die übrigen Angaben dieses
Dokuments zutreffen. Der russische Botschafter hat ebenfalls
über diese Unterredung berichtet. Seine Darstellung gibt ihr
einen wesentlich anderen Sinn, als die englische. Er telegraphierte
am 30. Juli nach Petersburg:
     „Cambon fragte bei Grey an, ob er der Meinung sei, daß der
Moment eingetreten sei? Grey antwortete ihm, daß der Moment
eintreten wird, sobald die Stellungnahme Deutschlands sich völlig klärt. Cambon
bestand nicht weiter darauf, da von England ernste Maßnahmen nicht nur
zur See, sondern auch auf dem Lande getroffen worden sind. Cambon sagte,
daß nach seiner Meinung die Lage sich in den Augen des Parlaments noch nicht
genügend geklärt hat, damit Grey, ohne zu riskieren, noch heute offen auf-
treten könnte." (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919.)

     P. Cambon selbst berichtete, er habe Grey darauf aufmerk-
sam gemacht, ,,daß es sich heute nicht mehr um einen Streit
um Einfluß zwischen Rußland und Österreich-Ungarn handele.
Es bestehe Gefahr eines Angriffs, der einen allgemeinen Krieg
heraufbeschwören konnte. — Sir E. Grey hat meine Empfindung
völlig verstanden, und, wie ich, hält er den Augenblick für
gekommen, alle Möglichkeiten ins Auge zu fassen und sie
gemeinsam zu erörtern". (Gelbbuch Nr. 108.)

     Wollte auch Grey am 29. Juli das entscheidende Wort noch
nicht sprechen, so haben doch offenbar andere es für ihn getan.
Vielleicht spielten im konstitutionellen England die Militärs eine
ebenso große oder noch größere Rolle, als im absolutistischen
Deutschland. Der belgische Gesandte in Paris berichtete am
31. Juli:

     „Der Chef des zweiten Bureaus des Generalstabs der Armee hat dem
(belgischen Militärattache) Major Collon bestätigt, daß England die förmliche
Versicherung gegeben hat, daß es Frankreich in dem gegenwärtigen Konflikt
im vollen Maße und mit den Waffen beistehen werde, wenn Deutschland mili-
tärisch eingriffe." (Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1919.)

     Bezeichnend für die englisch-französischen Anschauungen
ist die von P. Cambon (Blaubuch Nr. 105) gegebene Auslegung
des Begriffs ,, Angriff auf Frankreich", der als Voraussetzung
für die englische Waffenhilfe zu gelten habe. Ein „Angriff auf
Frankreich" wurde nämlich von ihm schon in einer Forderung
der Neutralität Frankreichs in einem deutsch-russischen Kriege
erblickt. In London und Paris hat man den Begriff „defensiv"
recht weitherzig ausgelegt!

     In England gab es damals offenbar zwei Strömungen : Die
eine, welche weder einen Krieg wollte, noch einsehen konnte,
daß England die Politik seiner festländischen Verbündeten mit-
machen müsse. Noch am 2. August sagte Asquith zu Lichnowsky,
ein Krieg zwischen England und Deutschland sei ganz undenkbar
(Weißbuch Nr. 676). Die andere Richtung sah den Augenblick
gekommen, um die Ziele zu verwirklichen, die England im Ver-
sailler Frieden erreicht hat. Benckendorff meldete am 31. Juli:

     ,,Grey versteht die Lage ausgezeichnet und sieht völlig klar, daß eine
gewisse Reaktion im Parlament ernste Schwierigkeiten für ihn schafft und
ihn zu großer Vorsicht zwingt."

     Noch am gleichen Tage telegraphierte er:

     „Die Ereignisse können sich so rasch entwickeln, daß jede übereilige
Beurteilung der Haltung Englands im gegenwärtigen Moment schädlich sein
und insbesondere Grey paralysieren würde, dessen Einfluß in einigen Stunden
wiederhergestellt sein könnte."

     Welche Ereignisse in Frage standen, sagt der Schluß des
erstgenannten Telegramms:

     ,,Die Krisis wird an jenern Tage eintreten, wo die europäische Seite der
Frage infolge der Gefahr eines Überfalles auf Frankreich augenfällig sein wird.
Dies ist wenigstens meine Meinung und die Meinung Cambons." (Prawda,
Nr. 7 vom 9. März 1919.)

     Frankreich lag daher nicht weniger daran, einen deutschen
Überfall nachzuweisen, wie es der englischen Regierung darauf
ankam, ihr Eingreifen in den Krieg mit einem deutschen Angriff
auf Frankreich zu rechtfertigen. Diesem Gesichtspunkt dienten
die zahlreichen französischen Meldungen nach London über deutsche
Rüstungen und Grenzverletzungen, die zum mindesten im Datum
alle unrichtig waren, und ebenso die Anlage 3 der Nr. 105 des
Blaubuches, eine bekannte Fälschung, die der offiziöse Historiker
Oman mit Stillschweigen übergeht.