I. Die Vorgeschichte

From World War I Document Archive
Revision as of 16:14, 25 November 2015 by Woodz2 (talk | contribs) (Created page with "<p align="right"> WWI Document Archive > Official Papers > Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 — Volume 5 (Commentary) > Glossen z...")
(diff) ← Older revision | Latest revision (diff) | Newer revision → (diff)
Jump to navigation Jump to search
The printable version is no longer supported and may have rendering errors. Please update your browser bookmarks and please use the default browser print function instead.

WWI Document Archive > Official Papers > Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 — Volume 5 (Commentary) > Glossen zu den Vorkriegsakten > I. Die Vorgeschichte


     Das Jahr 1919 hat zahlreiche amtliche Veröffentlichungen über
den Ursprung des Weltkrieges gebracht. Die deutschen Akten
sind vollständig erschienen, von den österreichischen der erste Teil,
aus den russischen Archiven ist manches wichtige Dokument hervor-
gezogen worden ; der serbische Diplomat Boghitschewitsch hat dazu
mehrfache Ergänzungen geliefert. Selbst das Dunkel in Frankreich
ist wenigstens etwas gelichtet worden durch das dritte französische
Gelbbuch, das allerdings erstaunlich wenig beachtet worden, in
Deutschland sogar fast gänzlich unbekannt geblieben ist. Wer
heute über den Ursprung des Krieges schreiben will, muß diese
Publikationen in ihrer Gesamtheit berücksichtigen. Kautsky tut
das nicht, sondern stützt sich ausschließlich auf das deutsche und
österreichische Material. Das deutsche Weißbuch vom Juni 1919
wird zwar erwähnt (K. Seite 45)*) und an mehreren Stellen heftig
bekämpft, die darin enthaltenen russischen Enthüllungen aber
werden mit Stillschweigen übergangen. Das Kautskysche Buch
ist daher ein, noch dazu nicht immer unparteiischer, Kommentar
zu den deutschen und österreichischen Akten, aber der Titel „Wie
der Weltkrieg entstand" ist nicht gerechtfertigt.
          Ein einleitendes Kapitel: „Die Schuldigen" vertritt den meiner
Auffassung nach völlig begründeten Standpunkt, daß man sich
nicht damit begnügen dürfe, den Kapitalismus und den dadurch
erzeugten Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung
des Staatsgebiets, für die ungeheure Katastrophe verantwortlich
zu machen. Ich teile die Auffassung, daß es trotz Kapitalismus
und Imperialismus möglich gewesen wäre, das Unheil zu vermeiden.
Die geschichtliche Forschung darf sich nicht auf so allgemeine
Redensarten beschränken. Sie muß versuchen festzustellen, in-
wieweit besondere politische Institutionen oder bestimmte Träger
solcher Institutionen als Ursache und Urheber des Völkerringens
anzusehen sind.

     Kautsky verfällt ferner nicht in den Fehler vieler anderer An- kläger der Zentralmächte, seine Betrachtung erst mit dem Attentat von Sarajewo zu beginnen, sondern geht auch auf die Vorgeschichte des Krieges ein. Aber gerade dabei macht sich die Beschränkung der Quellen nachteilig fühlbar. Gewiß kann man vielem, was ge- sagt wird, beistimmen. Es ist eine traurige Wahrheit, daß Deutsch- land schließlich nur noch mit Staaten befreundet und verbündet war, „die ihre Lebensfähigkeit verloren hatten" (K. Seite 24), mit Österreich und der Türkei. Die inneren Verhältnisse des morschen, von rivalisierenden und sich befeindenden Nationalitäten bewohnten Donaustaates und die harte, selbstsüchtige Wirtschaftspolitik der ungarischen A.Sirarier gegen das vergeblich zum Meere strebende Serbien sind zutreffend gekennzeichnet. Aber es heißt doch die Grenze gerechter Kritik überschreiten, wenn man von einem öster- reichischen „Imperialismus" spricht (K. Seite 26), und die Schilde- rung der Persönlichkeit des slawenfreundlichen, die Wiederher- stellung des Dreikaiserbündnisses anstrebenden Erzherzogs Franz Ferdinand als eines Mannes, „der allein auf die Gewalt, baute" (a. a. O.), wird manchem Widerspruch begegnen;"^-. ^• -i;'-'^' " -

     Bei der Entwicklung der Balkankrisen wird die „frivole 'Ge- fährdung des Weltfriedens" durch die Annexion von Bosnien und der Herzegowina scharf gebrandmarkt (K. Seite 27), aber die friedens- gefährdenden Bestrebungen Rußlands und seiner Ententefreunde werden nicht ei-wähnt. Das Streben nach der Herrschaft über die Meerengen, einem Ziele, von dem die politischen und militärischen Leiter des Zarenreichs wohl wußten und sogar protokollarisch fest- legten, man könne nicht voraussetzen, daß es „außerhalb eines europäischen Krieges" erreicht werden könnte (Weißbuch Juni 1919, Seite 175), die unter russischer Patronanz erfolgende Gründung des Balkanbundes, der zuerst gegen die Türkei, dann gegen die Donaumonarchie als Sturmbock dienen sollte, die Einweihung Frankreichs und Englands in die Ziele dieses Bundes, nach seiner Auflösung die weitgehenden russischen Versprechungen an Serbien, um sich dessen Mitwirkung als Stoßtruppe gegen die österreichische Südflanke zu sichern — all das sind seit dem Frühsommer 1919 bekannte Tatsachen, an denen der objektive Forscher nicht schwei- gend vorübergehen kann. Wie würde es gegen die politischen Leiter Deutschlands ausgenützt werden, wenn von ihnen der Minister eines verbündeten Staates ähnliche kriegsdrohende Äußerungen berichten könnte wie Sasonow von König Georg und Sir Edward Grey anläßlich der Verhandlungen über eine englisch-russische Marinekonvention im September 1912 (Weißbuch Juni 1919,

Seite 195)1 ■:\/::'::n'T:' ::'::.]"' :-i ^

     Auch von Widersprüchen ist die Kautskysche Darstellung nicht frei. Er erzählt selbst, daß er im Jahre 1902 in einer Schrift: „Die soziale Revolution" nachstehendes Urteil abgegeben hat (K. Seite 31 und 32, Sperrdruck von Kautsky):

     „Die einzige Friedensbürgschaft liegt heute in der Angst vor dem revolutionären Proletariat. Es bleibt abzuwarten, wie lange diese den sich häufenden Konfliktsursachen gegenüber standhalten wird. Und es gibt eine Reihe von Machten, die noch kein selbständiges revolutionäres Proletariat zu fürchten haben, und manche von ihnen werden völlig von einer skrupellosen, brutalen Clique von Männern der hohen Finanz beherrscht. Diese Mächte, bisher in der internationalen Politik unbe- deutend oder friedliebend, treten jetzt als internationale Störenfriede immer mehr hervor. So vor allem die Vereinigten Staaten, daneben England und Japan. Rußland figurierte ehedem In der Liste der internationalen Störenfriede an erster Stelle, sein heldenmütiges Proletariat hat es augenblicklich von ihr abgesetzt. Aber ebenso wie der Übermut eines im Innern schrankenlosen Regimes, das keine revolu- tionäre Klasse in seinem Rücken scheut, kann auch die Verzweiflung eines wankenden Regimes einen Krieg entzünden, wie es 1870 bei Na- poleon III. der Fall war und vielleicht noch bei Nikolaus II, der Fall sein wird. Von diesen Mächten und ihren Gegensätzen, und nicht etwa von dem zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Österreich und Italien, droht heute dem Weltfrieden die größte Gefahr." Mit diesem in den späteren Auflagen gestrichenen Urteil — eine genaue Zeitangabe der Streichung wird leider unterlassen — stimmt es nicht überein, wenn das vorliegende Buch schon in den bescheidenen Anfängen des deutschen Flottenbaues im Jahre 1897 den Übergang zu einer Weltpolitik sehen will, die, „wenn sie einen Sinn hatte, nur den haben konnte: Aufrichtung der Beherrschung der Welt durch Deutschland !" (K. Seite 17). Wer solches behauptet, hat sich wohl nie mit Bleistift und Papier klar gemacht, über welche Land- und Seestreitkräfte Deutschland gegenüber der „WeIt" verfügte, die es angeblich gewaltsam unterjochen wollte. Darauf wird im nächsten, von den „Rüstungen" handelnden Abschnitt noch eingegangen werden. Hier sei nur erwähnt, daß niemand, der das Flottenprogramm von 1897 kennt, ernstlich glauben kann, es habe die Einleitung des „Wettrüstens mit England" (a. a. O.) bedeutet. Daß die spätere deutsche Flottenpolitik, weniger wegen ihres Umfangs als wegen mancher lärmenden Begleiterschei- nungen, ein Haupthindernis für eine Verständigung mit England bildete, soll nicht bestritten werden. Auch ist zuzugeben, daß die insulare Lage des Vereinigten Königreichs das Streben erklärt und rechtfertigt, sich die Zufuhr zur See von Lebensmitteln und Roh- stoffen auch im Kriegsfalle unbedingt zu sichern. Ein Vertreter des Pazifismus aber sollte, wenn er in solcher Weise den britischen Marinismus verteidigt, den Hinweis nicht unterlassen, daß Eng- lands Versorgung zur See nicht nur ebenso gut, sondern weit besser durch das Bekenntnis zur Freiheit der Meere zu sichern gewesen wäre, wie sie Cobden 1862 gefordert hatte: Beseitigung des See- beuterechts, Beschränicung der Blockade mit Ausnahme der Konter- bande auf befestigte oder verteidigte Hafenplätze, Beseitigung des Visitationsrechts neutraler Schiffe. Die furchtbare Waffe der rücksichtslosen Blockade hat zudem gezeigt, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, nur die Insel England sei „im Falle eines Krieges dem Hungertode ausgeliefert" (K. Seite 18). Das kontinentale Deutsch- land hat nicht nur im Kriege, sondern gegen alle Gesetze von Mensch- lichkeit und Völkerrecht auch nach Einstellung der Feindselig- keiten unter dieser schrecklichsten aller Kriegswaffen furchtbar gelitten und bleibt selbst nach Abschluß des schmählichsten und demütigendsten Friedens von einer Erneuerung dieses teuflischen Mittels ständig bedroht. Auffallend im Munde eines Vorkämpfers internationaler Verständigung sind auch die Ausführungen auf Seite 19, wo England mehr oder minder das Recht zu einem Prä- ventivkrieg gegen Deutschland wegen dessen Flottenbauten zuge- sprochen wird.

     Aber nicht nur der Flottenbau von 1897, sondern auch die meisten anderen „deutschen Provokationen", die auf Seite 21—23 aufgezählt sind, fallen in die Zeit vor dem 1902 gefällten Urteil, nämlich das Telegramm an den Burenpräsidenten Krüger 1896, die Proklamation Kaiser Wilhelms an die Mohammedaner 1898, das Verhalten Deutschlands auf der ersten Haager Konferenz 1899, die Kaiserrede an die nach China ziehenden Truppen 1900. An „Provo- kationen" nach 1902 werden nur die Tangerfahrt 1905 und die Entsendung des „Panther" nach Agadir 1911 aufgezählt, zwei Ereignisse, die, so sehr man sie bedauern mag, an sich wohl kaum ausreichen, um die 1902 ausgesprochene Auffassung von Grund aus umzustoßen.

     Immerhin ist Kautsky, im Gegensatz zu manchem seiner Partei- freunde, gerecht genug, zuzugeben, daß der Militarismus nicht eine auf Deutschland beschränkte Erscheinung war, sondern daß auch Frankreich und Rußland „davon mehr als genug" hatten (K. Seite 33). Wenn aber unmittelbar vorher gesagt wird, daß die 1902 noch in erster Linie als „internationale Störenfriede" bezeich- neten angelsächsischen Staaten „bis zum Weltkriege überhaupt keinen Militarismus kannten", so mag das wohl für die nordameri- kanische Union gelten. Wer aber das Buch von Lord Roberts: „41 Jahre in Indien" kennt, wer gelesen hat, welche Überfalls- pläne gegen Deutschland Lord Fisher schmiedete, wie Lord (damals Mr.) Haidane, nachdem er im Januar 1906 die Besprechungen zwischen dem französischen und englischen Generalstabe eingeleitet hatte, sich im September desselben Jahres im preußischen Kriegs- ministerium Belehrung holte, um den Hauptmangel der englischen Heeresorganisation, die langsame Mobilmachung der britischen Hilfstruppen in einem etwaigen deutsch-französischen Kriege, zu beheben, der muß zugeben, daß England seine militaristische Periode, die durch die Namen Irland, Indien, Ägypten gekennzeichnet ist, auch während der letzten Generation noch nicht überwunden hatte. Die entsetzlichen Nachrichten über das Blutbad von Amritsar im April 1919 bilden dafür einen neuen Beleg.


  • ) Es werden bezeichnet das Kautskysche Buch mit K.,

die „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" mit D.,
die Schrift von Dr. Roderich Gooss: „Das Wiener Kabinett und die
Entstehung des Weltkrieges" mit G.