I. Die Weltlage 1914

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Das Vorgehen von Deutschlands Gegnern, als sie fünf Jahre
lang die These verfochten, der Weltkrieg habe Europa im tiefsten
Frieden überrascht, zeugt von einem weitgehenden Verständnis
für propagandistische Grundregeln und beweist den Erfolg von
Kontrastwirkungen bei geschickter Darstellung. Es zeugt auch
von der Gedankenlosigkeit der Menschen; denn die Behauptung,
das Jahr 1914 habe eine friedlich-stille Welt vorgefunden, ist
ganz falsch, wie jedermann auf Grund seiner eigenen Erinnerungen
selbst feststellen kann. Die Balkankriege, die fast zu einer euro-
päischen Konflagration geführt hätten, waren eben erst vorüber.
Ihr äußerer Abschluß, der Bukarester Frieden, datiert vom 10. Au-
gust 1913. Im Verlauf der durch die Balkankriege hervorgerufenen
Krisis hat, wie wir heute aus den serbischen Archiven*) wissen,
„eine kompetente Persönlichkeit" dem serbischen Gesandten in
Paris gesagt, der europäische Krieg sei „mit gewissen moralischen
Opfern für jetzt vermieden worden". Hierfür sei unter anderem
der Wunsch maßgebend gewesen, ,,den Balkanverbündeten Ge-
legenheit zur Erholung, Sammlung und Vorbereitung für Even-
tualitäten, die in einer nicht fernen Zukunft eintreten könnten,,
zu gewähren". (Bericht des serbischen Gesandten in Paris, Nr. 177,
vom 9. 4. 1913.) Bereits im Jahre 1911 hat der französische Bot-
schafter in London, Paul Cambon, dem damaligen serbischen
Geschäftsträger erklärt, der europäische Krieg sei nur um drei
bis vier Jahre aufgeschoben worden, denn Frankreich und seine
Verbündeten seien der Ansicht, daß der Krieg, selbst um den Preis
größerer Opfer, auf einen entfernteren Zeitraum, ,,d. h. auf 1914
bis 1915", verschoben werden müsse (Bericht des serbischen
Geschäftsträgers in London, Nr. 144, vom 21. 9. 1911). Die
russische Regierung hat unablässig Serbien auf einen kommenden
Weltkrieg hingewiesen. „Serbien hat", schrieb Sasonow am 6. Mai


  • ) Anlage VI der vorbenannten deutschen Denkschrift vom 27. 5. 1919,

1913 an Hartwig, „erst das erste Stadium seines historischen
Weges durchlaufen. Zur Erreichung seines . . . Zieles muß es noch
einen furchtbaren Kampf aushalten, bei dem seine ganze Existenz
in Frage gestellt ist. Serbiens verheißenes Land liegt im Gebiet
des heutigen Österreich-Ungarn." Es möge sich ,,in zäher und
geduldiger Arbeit mit dem erforderlichen Grad der Bereitschaft
für den in Zukunft unausweichlichen Kampf versetzen". Auch
der russische und französische Gesandte in Bukarest rieten Serbien,
seine Kräfte zu sammeln, „um möglichst vorbereitet die gewich-
tigen Ereignisse zu erwarten, die unter den Großmächten eintreten
müssen". (Telegramm des serbischen Gesandten in Bukarest
vom 26. 11. 1912.) ,, Wiederum sagte Sasonow," nach dem Tele-
gramm des serbischen Gesandten in Petersburg vom 12. Mai 1913,
,,daß wir (Serben) für die zukünftige Zeit arbeiten müssen, wenn
wir viel Land von Österreich-Ungarn bekommen werden."

So sah der Frieden Europas aus. Entsprechend hat das Jahr

1914 begonnen. Am 7. Januar unterbreitete Sasonow dem Zaren
ein Memorandum, in dem er vorschlug, die Türkei gewaltsam,
nämlich durch eine ,, ernste militärische Aktion und die Besetzung
türkischer Häfen" an der Reorganisation ihrer Armee mit Hilfe
der deutschen Militärmission zu hindern. Dabei rechnete er darauf,
daß Deutschland der Türkei aktiv beistehen werde. Er wollte
einen Ministerrat einberufen, ,,der darüber zu beraten haben würde,
ob Rußland für die Eventualität militärischer Aktionen bereit
sei, unter der Voraussetzung, daß es von Frankreich mit allen
Kräften unterstützt werde, und auch England ihm tatkräftig
beistehe". (Denkschrift vom 27. 5. 1919, Anlage IX.) In ihrer
Sitzung vom 14. Januar 1914 beschloß die Stadtverwaltung von
Paris, mit Hilfe namhafter Aufwendungen, in die sie sich mit den
Militärbehörden geteilt hat, die Mehlvorräte von Paris so weit
zu erhöhen, daß die Stadt während der Verkehrssperre einer
Mobilmachung keinen Mangel zu leiden brauche. Der Militär-
gouverneur von Paris, General Michel, erklärte anläßlich dieser
Beratung: „Die Zeit drängt. Dieses Jahr ist ein ganz besonderes
Jahr. Wir wissen nicht, was es uns bringen wird. Wir wissen
nicht, ob wir nicht die Mobilmachung im März oder April haben
werden,"*)

Rußland bewilligte, ebenfalls im Januar, 15 Millionen Rubel
für die Ausrüstung der montenegrinischen Truppen mit Artillerie
und Kriegsmaterial, weitere 4 Millionen für die Versorgung des
montenegrinischen Heeres und eine halbe Million für russische
Instrukteure (Bericht des russischen Geschäftsträgers in Cetinje


  • ) Siehe die Mitteilungen des Botscliafters von Schoen, Berliner Lokal-

anzeiger vom 21, 12. 1918, Nr. 646.


vom 23. 2. 1914, Boghitschewitsch, Kriegsursachen, S. 122). Am
21. Februar fand in Petersburg ein erweiterter Ministerrat statt,
in dem die Vorbereitung einer Aktion zur Eroberung der Darda-
nellen beraten wurde. Es sind damals militärische Maßnahmen
hierfür beschlossen worden, obwohl sich die Teilnehmer an dieser
geheimen Sitzung darüber klar waren, daß eine Aktion wie die
geplante nur im Rahmen eines europäischen Krieges unternommen
werden könne. Dem russischen Ministerium des Äußeren wurde
die Aufgabe gestellt, in zielbewußter Arbeit einen günstigen
politischen Boden für den geplanten Angriff vorzubereiten. Daß
die militärischen Vorbereitungen gut vorschritten, wurde auch
der nicht eingeweihten Öffentlichkeit in den Auslassungen des
Kriegsministers Suchomlinow in der Birschewija Wjedomosti
vom 12. März und vom 13. Juni mitgeteilt.

Anfang Mai eröffnete die französische Regierung ganz unver-
mittelt in Bern Verhandlungen über die Versorgung der Schweiz
mit Lebensmitteln im Falle eines europäischen Krieges*). Im
Mai und Juni schließlich wurden in London die bekannten Ver-
handlungen zwischen England und Rußland über den Abschluß
einer Marine- Konvention geführt, die sich gegen Deutschland
richtete.

Daß die Julikrisis 1914 aus diesem Boden erwachsen ist,
zeigt auch das neue deutsche Weißbuch. Obwohl es die weitere
Vorgeschichte des Krieges nicht behandelt, da diese einem späteren
Bande vorbehalten blieb, so beginnt es doch mit dem zweiten der
berüchtigten Zeitungsartikel Suchomlinows (Nr. 1, 2 und 3) und
zeigt auch deutlich die Beunruhigung der deutschen Regierung
über die englisch-russischen Verhandlungen (Nr. 3, 5. 6, 56).

Die vorstehende Skizze kann natürlich das Bild der damaligen
Weltlage keineswegs erschöpfen. Es fehlen in erster Linie die
diesbezüglichen deutschen Akten. Die wenigen Beispiele genügen
aber, um zu zeigen, daß Europa durchaus nicht das Bildjeines
friedlichen Idylls darstellte, ein Idyll, das erst durch einen plötz-
lichen Überfall Deutschlands auf die europäische Kulturwelt
zerstört wurde.

Es kann uns nicht obliegen, die Erklärung für die mannig-
fachen militärischen Maßnahmen der Entente im Jahre 1914 zu
geben und ihre Vorbereitungen auf einen nahen Krieg zu be-
gründen. Dies bleibt Aufgabe unserer Gegnfer. Aber heute be-
reits kann man sagen, daß die Entente nicht in der Lage sein wird,
ihre Haltung mit der Angst vor aggressiven Absichten Deutsch-
lands zu begründen, denn Deutschland hat keine analogen Maß-


•=) Siehe Schoen, a. a. 0.


nahmen getroffen. Die Schuldkommission der Pariser Friedens-
konferenz hat in dieser Hinsicht keine andere Anschuldigung
aufbringen können, als die, daß der deutsche Kaiser „schon viele
Monate vor der im Juli 1914 zum Ausbruch gekommenen Krisis"
aufgehört habe, ,,als Schutzherr des Friedens aufzutreten". In
bemerkenswertem Kontrast zu den Maßnahmen der Entente
steht das Schreiben des deutschen Armee-Verwaltungs-Departe-
ments an die Intendantur des XV. Armeekorps vom 9. Juli 1914*),
demzufolge die vorschriftsmäßige Verproviantierung der Festungen
Straßburg und Neubreisach bis zum 1. April 1915 hinausgeschoben
wurde.