Nr. 120. Der Botschafter in Petersburg an den Reichskanzler, 23. Juli 1914: Difference between revisions
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gegen Serbien immer schlechter werde. <br> | gegen Serbien immer schlechter werde. <br> | ||
Der Minister ergriff die Gelegenheit, um seinem <br> | Der Minister ergriff die Gelegenheit, um seinem <br> | ||
Groll gegen die österreichisch -ungarische Politik wieder <br> | Groll gegen die österreichisch-ungarische Politik wieder <br> | ||
in gewohnter Weise freien Lauf zu lassen. Daß Kaiser <br> | in gewohnter Weise freien Lauf zu lassen. Daß Kaiser <br> | ||
Franz Joseph und auch Graf Berchtold friedliebend <br> | Franz Joseph und auch Graf Berchtold friedliebend <br> | ||
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Erzherzog Franz Ferdinand gesetzt. Der Tod des <br> | Erzherzog Franz Ferdinand gesetzt. Der Tod des <br> | ||
Erzherzogs habe sie keineswegs entmutigt, sie seien <br> | Erzherzogs habe sie keineswegs entmutigt, sie seien <br> | ||
vielmehr diejenigen, welche die | vielmehr diejenigen, welche die gefährliche Politik, <br> | ||
die Österreich-Ungarn gegenwärtig treibe, inspi- <br> | die Österreich-Ungarn gegenwärtig treibe, inspi- <br> | ||
rierten | rierten<sup>3</sup>. Die eigentlichen Leiter dieser Politik <br> | ||
seien besonders zwei Männer, deren zunehmender <br> | seien besonders zwei Männer, deren zunehmender <br> | ||
Einfluß im höchsten Maße bedenklich erscheine, <br> | Einfluß im höchsten Maße bedenklich erscheine, <br> | ||
nämlich Graf Forgách, der »ein Intrigant der <br> | |||
schlimmsten Sorte« und Graf Tisza, der »<i>ein halber <br> | schlimmsten Sorte« und Graf Tisza, der »<i>ein halber <br> | ||
Narr sei.</i>« <br> | Narr sei.</i>« <br> | ||
Ich entgegnete Herrn Sasonow, seine maßlosen, <br> | Ich entgegnete Herrn Sasonow, seine maßlosen, <br> | ||
gegen die österreichisch -ungarische | gegen die österreichisch-ungarische Politik gerichteten <br> | ||
Vorwürfe schienen mir durch seine allzu großen <br> | Vorwürfe schienen mir durch seine allzu großen <br> | ||
Sympathien für die Serben stark beeinflußt und in <br> | Sympathien für die Serben stark beeinflußt und in <br> | ||
keiner Weise gerechtfertigt. Man könne billiger- <br> | keiner Weise gerechtfertigt. Man könne billiger- <br> | ||
weise nicht | weise nicht umhin, die von dem Wiener Kabinett <br> | ||
seit dem Attentat in Sarajevo beobachtete maß- <br> | seit dem Attentat in Sarajevo beobachtete maß- <br> | ||
volle Zurückhaltung anzuerkennen. Es scheine mir <br> | volle Zurückhaltung anzuerkennen. Es scheine mir <br> | ||
überhaupt verfrüht, schon jetzt, bevor das Ergebnis <br> | überhaupt verfrüht, schon jetzt, bevor das Ergebnis <br> | ||
der Untersuchung über das Attentat | der Untersuchung über das Attentat vorliege, dar- <br> | ||
über zu urteilen, inwieweit Österreich-Ungarn be- <br> | über zu urteilen, inwieweit Österreich-Ungarn be- <br> | ||
rechtigt sei, die serbische | rechtigt sei, die serbische Regierung für die groß- <br> | ||
serbische Agitation | serbische Agitation verantwortlich zu machen. Nach <br> | ||
allem aber, was schon jetzt bekannt sei, könne <br> | allem aber, was schon jetzt bekannt sei, könne <br> | ||
man kaum daran zweifeln, <i>daß die großserbische <br> | man kaum daran zweifeln, <i>daß die großserbische <br> | ||
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droht werde. Sollten daher, wie es allerdings den <br> | droht werde. Sollten daher, wie es allerdings den <br> | ||
Anschein habe, durch den Prozeß gegen die Ur- <br> | Anschein habe, durch den Prozeß gegen die Ur- <br> | ||
heber des Attentates | heber des Attentates wirklich Fäden aufgedeckt <br> | ||
werden, welche von Serbien ausgingen, und sollte <br> | werden, welche von Serbien ausgingen, und sollte <br> | ||
bewiesen werden, daß die serbische | bewiesen werden, daß die serbische Regierung <br> | ||
gegenüber den gegen Österreich gerichteten Machen- <br> | gegenüber den gegen Österreich gerichteten Machen- <br> | ||
schaften eine | schaften eine bedauerliche Konnivenz gezeigt habe, <br> | ||
so sei die österreichisch -ungarische Regierung zweifel- <br> | so sei die österreichisch-ungarische Regierung zweifel- <br> | ||
los berechtigt, in Belgrad eine ernste Sprache zu führen. <br> | los berechtigt, in Belgrad eine ernste Sprache zu führen. <br> | ||
Ich könnte mir nicht denken, daß in diesem Falle <br> | Ich könnte mir nicht denken, daß in diesem Falle <br> | ||
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Einzelner nicht</i> ein ganzes Land <i>verantwortlich <br> | Einzelner nicht</i> ein ganzes Land <i>verantwortlich <br> | ||
machen</i>. Der Mörder des Erzherzogs sei überdies<br> | machen</i>. Der Mörder des Erzherzogs sei überdies<br> | ||
nicht einmal serbischer Untertan. Eine | nicht einmal serbischer Untertan. Eine groß- <br> | ||
serbische Propaganda gäbe es <i>allerdings in Öster- <br> | serbische Propaganda gäbe es <i>allerdings in Öster- <br> | ||
reich</i>, sie sei aber die Folge der schlechten Re- <br> | reich</i>, sie sei aber die Folge der schlechten Re- <br> | ||
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berechtigt, zu verlangen, daß von Seiten der <br> | berechtigt, zu verlangen, daß von Seiten der <br> | ||
serbischen Behörden aktiv gegen die österreich- <br> | serbischen Behörden aktiv gegen die österreich- <br> | ||
feindliche Propaganda vorgegangen werde, denn die <br> | |||
Regierung könne sich unmöglich jeder Verantwortung <br> | Regierung könne sich unmöglich jeder Verantwortung <br> | ||
für das, was im Lande vor sich gehe, entziehen. <br> | für das, was im Lande vor sich gehe, entziehen. <br> | ||
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widerte, daß ich immer nur von einem Ziele hätte <br> | widerte, daß ich immer nur von einem Ziele hätte <br> | ||
reden hören, nämhch: der »Klärung« des Verhält- <br> | reden hören, nämhch: der »Klärung« des Verhält- <br> | ||
nisses Österreich -Ungarns zu Serbien. <br> | nisses Österreich-Ungarns zu Serbien. <br> | ||
Der Minister fuhr erregt fort, auf jeden Fall <br> | Der Minister fuhr erregt fort, auf jeden Fall <br> | ||
dürfe Österreich-Ungarn, wenn es durchaus den <br> | dürfe Österreich-Ungarn, wenn es durchaus den <br> | ||
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Am Schluß der Unterhaltung frug ich Herrn <br> | Am Schluß der Unterhaltung frug ich Herrn <br> | ||
Sasonow, was nach seiner Ansicht an dem in der <br> | Sasonow, was nach seiner Ansicht an dem in der <br> | ||
letzten Zeit in der Presse viel erörterten | letzten Zeit in der Presse viel erörterten angeblicher. <br> | ||
Plan einer Vereinigung von Serbien und Montenegro <br> | Plan einer Vereinigung von Serbien und Montenegro <br> | ||
wäre. Der Minister bemerkte, eine solche Vereini- <br> | wäre. Der Minister bemerkte, eine solche Vereini- <br> | ||
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<sup>5</sup> Ausfertigung irrig: Serbien. <br> | <sup>5</sup> Ausfertigung irrig: Serbien. <br> | ||
<sup>6</sup> In Ausfertigung fehlt irrig: zu. <br> | <sup>6</sup> In Ausfertigung fehlt irrig: zu. <br> | ||
<sup>7</sup> | <sup>7</sup> »Ultimatum nicht die Rede« vom Kaiser zweimal unterstrichen. <br> |
Revision as of 15:30, 19 May 2015
WWI Document Archive > Official Papers > Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 — Volume 1 > Nr. 120.
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St. Petersburg, den 21. Juli 19142 F. P o u r t a l è s |
1 Nach der Ausfertigung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts: 23. Juli vorm. Bericht lag dem
Kaiser vor, von ihm am 27. Juli zurückgegeben. Gemäß k. Randverfügung
am 30. Juli durch Erlaß den Botschaften in Wien, Rom, London und
Paris mitgeteilt.
3 Am Rand Ausrufungszeichen des Kaisers.
4 Am Rand zwei Ausrufungszeichen des Kaisers.
5 Ausfertigung irrig: Serbien.
6 In Ausfertigung fehlt irrig: zu.
7 »Ultimatum nicht die Rede« vom Kaiser zweimal unterstrichen.