Nr. 161. Der Botschafter in London an den Staatssekretär des Auswärtigen (Privatbrief), 25. Juli 1914

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Nr. 161
Der Botschafter in London an den Staatssekretär des Auswärtigen (Privatbrief)1

                                                  London, den 23. Juli 19142                     Lieber Jagow!

     Vielen Dank für Ihren Brief vom 18., der mich aber leider nicht ganz hat überzeugen können'.

     Allerdings haben wir ein Bündnis mit Österreich, und ich möchte gleich wiederholen, daß ich dasselbe für nützlich und sogar für notwendig halte, wenn es auch vielleicht den Voraussetzungen nicht mehr vollständig entspricht, unter denen Bismarck es abge- schlossen hat. B. stand unter dem Eindruck der Gefahr eines Revanchekrieges mit russischer Hilfe. Diese Gefahr besteht aus bekannten Gründen heute für uns nicht mehr in demselben Maße wie damals. Rußlands Interessengebiet hat sich nach Osten ver- schoben, wo immer neue Gebiete der russischen Machtentfaltung erschlossen werden und immer wieder Fragen auftauchen, die die russische Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ich glaube nicht an den russischen Krieg, und zwar schon deshalb nicht, weil es doch ganz klar ist, daß Frankreich nur so lange der Vasall Ruß- lands bleiben wird und auch England nur so lange anderthalb Augen über das russische Vordringen in Asien schließen wird, als wir die Aufmerksamkeit beider in erster Linie in Anspruch nehmen. Welches Interesse hätte denn Rußland, um den Krieg zumachen? — Solange ich mich entsinnen kann, d. h. solange ich mit der Diplo-

' Nach dem bei den Akten befindlichen Konzept. Niederschrift nach dem

Diktat des Fürsten Lichnowsky mit Änderungen von seiner Hand. - Abgegangen am 23. Juli, Zeit des Eintreffens nicht bekannt. ' Siehe Nr 72.

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matie in Fühlung stehe, und das sind nun beinahe 30 Jahre, kann ich mich erinnern, daß es hieß, Rußland sei nicht fertig, werde aber in einigen Jahren fertig sein, und daß der Generalstab beun- ruhigt sei. Und immer war es nicht fertig, wenn diese Jahre herankamen, und so wird es auch wohl in Zukunft sein. Ebenso habe ich immer wieder die Frage des sogenannten prophylaktischen Kriegs erörtern hören. Schon Bismarck stand diesem Gedanken sehr skeptisch gegenüber und sagte zu Waldersee und anderen Herren Militärs, die ihm die Notwendigkeit des prophylaktischen Krieges klar machen wollten, er könne sich ohne Beweise nicht überzeugen lassen, und Beweise konnte niemand ihm liefern. Ich glaube auch heute nicht, daß wir mit Rußland einen Krieg werden fähren müssen, wenn unsere Politik geschickt geleitet wird, am allerwenigsten aber glaube ich, daß durch einen prophylaktischen Krieg etwas anderes zu erreichen wäre, als daß wir uns bestenfalls einen zweiten Nachbarn zum unversöhnlichen Feind gemacht hätten.      Ich möchte aber nicht dahin verstanden werden, als ob ich etwa für eine Preisgabe Österreichs oder des österreichischen Bündnisses etwa zugunsten einer russischen odet gar einer eng- lischen Freundschaft eintreten wollte. Nichts liegt mir ferner. Die Erhaltung Österreichs ist für uns von größter Wichtigkeit, nur müssen wir bei dem Bündnis der leitende, nicht aber der leidende Teil sein. Das Bündnis war doch als eine gegen- seitige Versicherung gedacht gegen politische Wetterschäden, nicht aber als ein Zusammenschluß zu einer gemeinsamen poli- tischen Firma. Wir müssen Österreich zwar schützen, es liegt aber nicht in unserem Interesse, es bei einer aktiven Balkan- politik zu unterstützen, bei der wir alles zu verlieren und absolut nichts zu gewinnen haben. Welche Vorteile ver- sprechen Sie sich denn für uns davon, daß das österreichische Ansehen auf dem Balkan und sonstwo gestärkt werde? Österreichs Bundeswert beruht doch vor allem auf seiner militä- rischen Leistungsfähigkeit, nicht aber auf seinem auswärtigen Prestige, und unsere Machtstellung ist groß genug, um der Drei- bundgruppe auch trotz der diplomatischen Niederlagen des Grafen Berchtold Einfluß zu verschaffen. Was würden Sie dazu sagen, wenn England oder Rußland die Franzosen zur Wiederbelebung ihres doch tatsächlich sehr gesunkenen Ansehens zu einer aktiven und gefährlichen Auslandspolitik ermutigte? Gerade die verhält- nismäßige Schwäche Frankreichs und die Angst vor uns sind die Faktoren, die es veranlassen, sich an England und Rußland anzu- schmiegen und sich willfährig zu erweisen. Ähnlich ist es mit Österreich; ich will nicht sagen das geschwächte, wohl aber das geängstigte Österreich ist für uns ein bequemer Bundesgenosse, das Zurückgehen des österreichischen Einflusses auf dem Balkan hat sich bisher in sehr vorteilhafter Weise für unsere dortigen wirt- schaftlichen Interessen geltend gemacht. Wirtschaftlich sind wir und Österreich auf dem Balkan Rivalen, und überall tritt dort immer mehr und mehr, wie mir erst kürzlich ein leitender Wiener Finanzmann klagte, der deutsche Handel in die Stellung ein, die früher der österreichische inne hatte.

     Ob man uns in Wien der Flaumacherei beschuldigt, ist doch vollkommen gleichgültig; geschimpft wird über uns dort stets, und mit der berühmten Nibelungentreue werden wir nachträglich doch nur ausgelacht. An den baldigen Zerfall Österreichs glaube ich aber ebensowenig wie an die Möglichkeit, der inneren Schwierig- keiten durch eine aktive Auslandspolitik Herr zu werden. Das südslawische Nationalgefühl und das Bedürfnis, sich zusammenzu- schließen, kann durch einen Krieg nicht vernichtet werden und wird vielleicht nur umso heftiger in die Erscheinung treten. Durch ein aktives Vorgehen Österreichs aber werden gerade die Balkan- staaten noch mehr der russischen Hegemonie in die Arme ge- trieben, während sie sonst, wie das Beispiel von Rumänien und auch von Bulgarien zeigt, die Tendenz haben, sich auf eigene Füße zu stellen.

     Was schließlich die Lokalisierung des Streits anlangt, so werden Sie mir zugeben, daß sie, falls es zu einem Waffengange mit Serbien kommt, dem Gebiete der frommen Wünsche angehört. Es scheint mir also alles darauf anzukommen, daß die österreichi- schen Forderungen so formuliert werden, daß sie mit einigem Druck aus Petersburg und London in Belgrad annehmbar sind, nicht aber, daß sie notwendigerweise zu einem Kriege führen ad majorem illustrissimi comitis de Berchtold gloriam.

                                                            L i c h n o w s k y