Nr. 18 Der Gesandte in Berlin an den Vorsitzenden im Ministerrat

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Nr. 18
Der Gesandte in Berlin an den Vorsitzenden im Ministerrat1


Bericht 410                                    Berlin, den 30. Juli 1914

     Heute habe ich endlich den Reichskanzler gesehen. Er hatte
mich schon wiederholt bestellt gehabt, war aber bisher jedesmal ver-
hindert worden, mich zu empfangen.
     Er beauftragte mich, Sr. M. dem König zu melden, daß er seit
zwei Tagen mehrere Briefe und Telegramme angefangen habe, um
darin Sr. M. die Lage zu schildern, daß aber jedesmal vor der Fertig-
stellung eine Änderung der Lage eingetreten sei, die den begonnenen
Bericht vollständig überholt hätte.
     Über die heutige Lage könne er mir folgendes mitteilen:
     Deutschland habe es übernommen, mit einer Vermittlungsaktion
einzusetzen. Er — der Kanzler — habe dem Wiener Kabinett den
Rat erteilt, in Petersburg zu erklären, daß Österreich-Ungarn mit
seiner Aktion gegen Serbien keine Territorialerwerbung anstrebe und
auch nicht beabsichtige, den Besitzstand Serbiens zu tangieren, daß
es sich vielmehr nur um eine temporäre Besetzung serbischer Gebiets-
teile handle zu dem Zweck, von Serbien Garantien für künftiges
Wohlverhalten zu erzwingen, da auf die bloßen mündlichen wie
schriftlichen Erklärungen der serbischen Regierung nichts zu geben sei.
     Er habe in Wien geltend gemacht, daß es darauf ankomme,
Rußland ins Unrecht zu setzen.
     Sir Edward Grey habe in der gleichen Richtung durch ihn —
den Reichskanzler — auf Österreich-Ungarn zu wirken versucht und
habe sich stark gemacht, wenn Österreich-Ungarn diese Erklärung
in Petersburg abgebe, Rußland zur Mäßigung zu veranlassen.
     Außerdem finde ein Austausch von Telegrammen zwischen dem
Deutschen Kaiser und dem Zaren statt. Die ersten Depeschen, in
denen der Zar das Vorgehen Österreichs als ungerechtfertigt hinstellte,
und der Kaiser es erklärte, hätten sich gekreuzt.
     Vorläufig wäre von Wien noch keine Antwort da. Der Kanzler
habe aber heute nacht in energischster Weise dem Wiener Kabinett
erklärt, daß Deutschland sich nicht in das Schlepptau der Balkan-
politik Österreichs stellen könne. Für den Fall, daß Österreich
zustimmend antworte, gebe der Reichskanzler die Hoffnung auf die
Erhaltung des Friedens nicht auf. Sicher sei dies aber nicht, da die
von Rußland bereits vorgenommene Mobilisierung den russischen
Rückzug sehr erschwere. Das Vorgehen Deutschlands werde dadurch
sehr erschwert, daß man nicht wisse, was bei den getroffenen Maß-
regeln in Rußland uud Frankreich Bluff oder Ernst sei.
     Solange die österreichische Antwort nicht eingetroffen sei, gehe
Deutschland nicht damit vor, den »Zustand der drohenden Kriegs-
gefahr« zu erklären, dem, wie die Dinge in Deutschland lägen, die Mo-
bilisierung, und zwar nach unserer Militärverfassung die Mobilisierung
der ganzen Armee, folgen müsse. Lange dürfe mit der Entscheidung
in Deutschland nicht gezögert werden, da wir sonst gegen Rußland
und Frankreich ins Hintertreffen kämen.
     Vorläufig sei man in Deutschland, nachdem schon die Beschüt-
zung gewisser Kunstbauten (Brücken, Tunnel, Fernspruchanlagen2 usw.)
durch die Polizei verfügt worden sei, dazu über[ge]gangen, auch den
militärischen Schutz zu verfügen.
     Gegen Deutschland habe Rußland noch nicht mobilisiert.
     Italien stehe zum Dreibund und habe nur eine gewisse Modi-
fikation seiner Hilfeleistung angekündigt.
     Die Haltung von Bulgarien und Rumänien sei unsicher.
     England habe keinen Zweifel gelassen, daß, wenn der Krieg
ausbreche, es nicht in der Lage sei, ruhig zuzusehen. England werde
mit den Ententemächten gehen.
     Der Reichskanzler äußerte zum Schluß : Es sei traurig, sagen zu
müssen, daß gewissermaßen durch elementare Kräfte und die lang-
dauernde Verhetzung zwischen den Kabinetten möglicherweise ein
Krieg entfesselt wäre, den kein Staat wünsche.
     Genehmigen Ew. Exz. usw.

                                                                 G.  H.  L e r c h e n f e l d


1 Nach den Münchener Akten auszugsweise telephonisch nach München übermittelt.
2 Vielleicht ist »Funkspruchanlagen« zu lesen.