Nr. 326 Der Botschafter in Wien an den Staatssekretär des Auswärtigen (Privatbrief), 28. Juli 1914

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Nr. 326
Der Botschafter in Wien an den Staatssekretär des Auswärtigen (Privatbrief)1

Geheim!                               Wien, den 26. Juli 19142

                         Lieber Herr v. Jagow !      Besten Dank für Ihr freundliches Seh reiben von gestern, betreffend die italienische Kompensationsfrage. Ich kann Sie versichern, daß niemand mehr als ich von der absoluten Notwendigkeit überzeugt ist, Italien fest beim Dreibund zu halten, und daß ich mit Beharrlichkeit und äußerster Festigkeit alles nur Mögliche tue, um die Leute hier zu bewegen, aus ihrem unnützen Streit mit Italien über die Au'^legung des Artikels VII heraus und zu praktischen Entschlüssen zu bringen. Aber die Österreicher werden immer Österreicher bleiben. Hochmut und Leichtsinn gepaart sind nicht leicht und nicht schnell zu über- winden! Ich kenne sie genau. Sie haben mein heutiges Telegramm3 erhalten, wonach Avarna hier erklärt hat, die italienische Regierung werde in dem eventuellen bewaffneten Konflikte zwischen der Monarchie und Serbien eine freundschaftliche und den Bündnispflich- ten entsprechende4 Haltung einnehmen. Avarna hat mir das heute selbst bestätigt und mich versichert, Italien denke nicht daran, vom Dreibund abzuspringen. Ich habe dieses Thema — auch wegen der Kompensationen — wiederholt und eingehend ganz vertraulich mit meinem guten Freunde Avarna durchgesprochen, der ja von San Giuliano über alle Gespräche mit Flotow auf dem laufenden erhalten wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren — und ich habe Grund zu der Annahme, daß Avama den gleichen Eindruck hat — daß San Giuliano durch die Sprache, die er Flotow und Berlin gegenüber führt, versucht, auf dem Wege über Berlin seine neutrale Haltung im österreichisch -serbischen Konflikte möglichst teuer zu verwerten. Das, was Avama aus Rom erhält, klingt immer viel ruhiger als das, was uns gesagt wird, und die letzte, oben angeführte Erklärung des römischen Kabinetts ist ein neuer Beweis dafür. So ist es zu er- klären, daß man in Berlin über die günstige5 Haltung Italiens über- rascht ist.

     Das hindert nun allerdings keineswegs, daß mit allen Mitteln, besonders auch in unserem Interesse, dahin gearbeitet werden muß, endlich in der Kompensationsfrage zu einem praktisch gangbaren Auswege zu gelangen. Ich habe gestern auf Grund des Telegramms Nr. 1366 zunächst Baron Macchio bearbeitet, um auch durch diesen auf Berchtold zu wirken. Ich habe ihm vorgehalten, daß es San Giuliano nicht zu verdenken sei, wenn er sich mit der österreichischen Erklärung, keinen Gebietszuwachs zu beabsichtigen, nicht beruhigt, da diese in nicht bindender Weise erfolgt sei. Österreich solle end- lich den theoretischen Streit über die Auslegung des Artikels VII fallen lassen. Übrigens gäbe ich ihm zu bedenken, daß Deutsrhland nicht die hiesige Auffassung teile. Es müßten praktische Entschlüsse gefaßt werden, denn man kann doch hier nicht im Zweifel sein, daß Italien gegebenenfalls sicher mit Kompensationsforderungen kommen werde, wenn man auch hier theoretisch deren ernsthche Begründung leugne. Baron Macchio war auch so weit zuzugeben, daß die Er- örterungen über die Auslegung des Artikels VII zu nichts führen. Auch darüber sei er sich klar, daß Österreich Kompensationen an Italien werde geben müssen, wenn es selbst sein Gebiet erweitere. »Nur können die Italiener nicht verlangen, daß wir die Kompensationen aus unserem eigenen Fleische schneident fügte er hinzu. Das Trentino wird der alte Kaiser — und auch die Militärs — wohl niemals her- geben. Eine Möglichkeit könnte ich mir nur nach einem großen siegreichen Kriege denken, falls Österreich völlig carte blanche am Balkan erhalten sollte. Wenn die Italiener glauben, das Trento gegen eine kleine Gebietserweiterung Österreichs am Balkan einzu- tauschen, und womöglich noch Valona — das sie ja allerdings, wie ich glaube, ehrlich rücht gern haben woUen — zu bekommen, so täuschen sie sich, und wir sollten, wie mir scheint, diese Illusionen in Rom zerstören. Stolberg, den ich in der Kompensationsfrage auch bei Hoyos vorgeschickt habe, der zur Zeit den größten Einfluß bei Berchtold bat, hat aus seinen Besprechungen ganz den gleichen Ein- druck erhalten.

     Ich habe, wie Sie aus meinem heutigen Telegramm7 ersehen haben, heute auch mit Berchtold und General von Conrad diese Frage besprochen, und meine sehr bestimmte Erklärung, daß man in der Auslegungsfrage Deutschland hier nicht auf seiner Seite habe, machte besonders auf Conrad ernsten Eindruck. Das Schlimme ist, daß die hiesige Lesart betreffend ArtikelVII noch vom sogenannten »großen«  Aehrenthal herstammt, der ganze Bände von Rechtsgutachten zu ihrer Begründung hat verfassen lassen8, und Berchtold sich scheut, dieses »Vermächtnis« seines berühmten Vorgängers preiszugeben. Conrad, der solche Skrupel nicht hat, sah auch ein, daß man den Italienern etwas geben müsse, und er bemerkte ganz vertraulich, er habe nichts dagegen, wenn man die Italiener einlüde, Montenegro zu besetzen. Ich habe diese Bemerkung in mein amtliches Telegramm nicht aufgenommen, weil sie ihm so in der Unterhaltung entfuhr, und er wohl nicht darauf festgenagelt zu werden wünschte.

     Sowohl Maccliio als Berchtold und Conrad habe ich als rein persönhche Ansicht den Vorschlag gemacht, sie sollten Italien gegen- über erklären — und zwar ohne Berufung auf Artikel VII, um iliren theoretischen Standpunkt nicht aufgeben zu müssen — daß Öster- reich das Recht Italiens auf Kompensationen für den Fall anerkenne, daß die Monarchie ihr Gebiet am Balkan erweitere. Auch Avama fand diesen Ausweg gut. Mehr kann Italien nicht verlangen, denn im Dreibundvertrag steht meines Wissens nichts darüber, wo diese Kompensationen liegen sollen oder wie groß sie sein müssen. Das müssen die Verhandlungen dann ergeben. Übrigens hat Avarna jetzt Instruktion, mit Berchtold die Kompensationsfrage direkt zu besprechen. Ich würde es für sehr nützhch halten, wenn Österreich schon vorher obige Erklärung abgeben würde, denn auch in Rom scheut man sich vor direkten Verhandlungen, weil man eine Einigung in der Frage der Auslegung des Artikels VII für ausgeschlossen hält und nur Verschärfung der Reibungen erwartet.

     28. Juli. Ich habe gestern erneut 11/2 stündige Unterredung mit Graf Berchtold und Graf Forgäch über die Frage gehabt, wobei ich so entschieden gesprochen habe, wie es überhaupt nur möglich ist. Zum Schlüsse rief Graf Berchtold aus: »Ich sehe die Situation ganz klar, ich bin Shylock, der auf seinem ScJiein besteht und doch nichts ausrichtet«. Ich glaube in dieser Unter.edung erreicht zu haben, daß man hier jetzt die Initiative zu einer Besprechung mit Italien ergreifen wird.

     Als ich nach Hause kam, besuchte mich Avarna. Dieser machte mir, unter Berufung auf unsere persönliche Freundschaft und mit der dringenden Bitte ihn nicht zu verraten, nachstehende Mitteilung. Er habe die Instruktion erhalten gehabt, die Kom- pensationsfrage hier zur Sprache zu bringen, sei aber heute ange- wiesen worden, dies nicht zu tun, weii man in Rom dadurch ledigUch Reibungen befürchte, die man vermeidt-n wolle. Gleichzeitig hat er durch San Giuliano ein Telegramm an BoUati zur Kenntnis erhalten, worin dieser beauftragt wird, in Berlin darauf zu dringen, daß die Kompensationsfrage in Wien durch uns betrieben werde. — Ich habe Avarna gesagt, daß ich auf Befehl meiner Regierung mit allen möglichen Mitteln die Lösung der Frage in italienischem Sinne hier betriebe.

     Heute frühstückten Graf Berchtold und Graf Forgäch bei mir. Letzterer sagte mir, nach meiner gestrigen Unterredung mit Graf Berchtold und ihm sei beschlossen worden, unseren Vorstellungen Rechnung zu tragen9. Inzwisch- n habe eine Unterredung zwischen Ew. Exz. und Graf Szögyeny stattgefunden, in welcher Ew. Exz. einen inhalthch ganz gleichen Vorschlag für eine hier abzugebende Erklärung gemacht hätten wie ich neulich10. Man habe diesen Vorschlag nunmehr angenommsfu- Am heutigen Nachmittag las mir Graf Forgäch den Erlaß vor, den er in die>er Sache an Graf Szögyeny richtet, und der den ganzen Hergang der Verhandlungen eingehend schildert. Graf Szögyeny wird diesen Erlaß Ihnen vorlesen. Hoffent- lich wird die hiesige Erklärung nun den Italienern genügen ! — Wie mir Graf Forgäch sagte, hat sich Herr von Merey bis zum letzten Moment gegen jedes Eingehen auf die italienischen Forderungen gewehrt11, die er als chantage bezeichne. — Die Hauptsache ist, daß die Sache mit einer Überklebung des Risses zwischen Wien und Rom durch uns für jetzt beigelegt ist — hoffentlich wenigstens — und daß der Dreibund intakt dasteht.



     Verzeihen Sie die Länge dieses Schreibens. Es war nicht in diesem Ausmaße mtentioniert ; es hat sich »historisch« in die Länge gezogen. Mit herzlichen Grüßen

stets Ihr aufrichtigst ergebener v o n   T s c h i r s c h k y

     Graf Berchtold ist in sehr guter Stimmung und stolz auf die zahlreichen Glückwunsch -Telegramme, die ihm aus allen Teilen D e u t s c h l a n d s zugehen I


1 Nach der Ausfertigung von Tschirschkys Hand. 2 Zeit des Eingangs in Berlin nicht bekannt, zum Zentralbüro des Aus- wärtigen Amis gelangt erst am 9. Februar 1915. 3 Siehe Nr. 212. 4 Am Rand Fragezeichen Jagows. 5 Desgleichen. 6 Siehe Nr. 150. 7 Siehe Nr. 212. 8 Am Rand Ausrutungszeichen Jagows. 9 Siehe Nr. 328. 10 Dazu die Randbemerkung Jagows: »Unsinn!«  11 Am Rand Jagow: »na ja!«