View source for Nr. 376 Der Staatsekretär des Auswärtigen an den Gesandten in Brüssel, 29. Juli 1914

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<center>Nr. 376</center>

<center><font size=4>'''Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Gesandten in Brüssel<sup>1</sup>'''</font></center><br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Berlin, 29. Juli 1914<sup>2</sup><br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der k. Regierung liegen zuverlässige Nachrichten vor über <br>
den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der <br>
Maasstrecke Givet-Namur. Sie lassen keinen Zweifel über die <br>
Absicht Frankreichs<sup>3</sup> durch belgisches Gebiet gegen Deutschland <br>
vorzugehen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die k. Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, <br>
daß Belgien trotz besten Willens nicht imstande sein wird, <br>
ohne Hilfe einen französischen<sup>4</sup> Vormarsch mit so großer Aussicht <br>
auf Erfolg abzuwehren, daß darin eine ausreichende Sicherheit gegen <br>
die Bedrohung Deutschlands gefunden<sup>5</sup> werden kann. Es ist ein <br>
Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff <br>
zuvorzukommen. Mit dem größten Bedauern würde es daher<sup>6</sup> die <br>
deutsche Regierung erfüllen, wenn Belgien einen Akt der Feindselig- <br>
keit gegen sich darin erblicken würde, daß die Maßnahmen seiner <br>
Gegner Deutschland zwingen, zur Gegenwehr auch seinerseits <br>
belgisches Gebiet zu betreten. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Um jede Mißdeutung auszuschließen, erklärt die k. Regierung <br>
das Folgende: <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;1. Deutschland beabsichtigt keinerlei Feindseligkeiten gegen <br>
Belgien. Ist Belgien gewillt, in dem bevorstehenden Kriege Deutsch- <br>
land gegenüber eine wohlwollende Neutralität einzunehmen<sup>7</sup>, so ver- <br>
pflichtet sich die deutsche Regierung beim Friedensschluß<sup>8</sup> nicht <br>
nur Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreichs in vollem Um- <br>
fang zu garantieren, sie ist sogar bereit, etwaigen territorialen<sup>9</sup> Kom- <br>
pensationsansprüchen des Königreichs auf Kosten Frankreichs<sup>10</sup> in <br>
wohlwollendster Weise entgegenzukommen. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;2. Deutschland verpflichtet sich unter obiger Voraussetzung das <br>
Gebiet des Königreichs wieder zu räumen, sobald der Friede ge- <br>
schlossen ist. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;3. Bei einer freundschaftlichen<sup>11</sup> Haltung Belgiens ist Deutsch- <br>
land bereit, im Einvernehmen mit den k. Belgischen Behörden <br>
alle Bedürfnisse seiner Truppen gegen Barzahlung anzukaufen und <br>
jeden Schaden zu ersetzen, der etwa durch deutsche Truppen ver- <br>
ursacht werden könnte. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Sollte Belgien den deutschen Truppen feindlich entgegentreten, <br>
insbesondere ihrem Vorgehen durch Widerstand der Maasbefestigungen <br>
oder durch Zerstörungen von Eisenbahnen, Straßen, Tunneln oder <br>
sonstigen Kunstbauten Schwierigkeiten bereiten, so wird Deutschland <br>
zu seinem Bedauern gezwungen sein, das Königreich als Feind zu <br>
betrachten. In diesem Falle würde Deutschland dem Königreich gegen- <br>
über keine Verpflichtungen übernehmen können, sondern müßte die <br>
spätere Regelung des Verhältnisses beider Staaten zueinander der Ent- <br>
scheidung der Waffen überlassen. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die k. Regierung gibt sich der bestimmten Hoffnung hin, daß <br>
diese Eventualität nicht eintreten, und daß die k. Belgische Regierung <br>
die geeigneten Maßnahmen zu treffen wissen wird, um zu verhin- <br>
dern, daß Vorkommnisse wie die vorstehend erwähnten sich ereignen. <br>
In diesem Falle würden die freundschaftlichen Bande, die beide <br>
Nachbarstaaten verbinden, eine weitere und dauernde Festigung <br>
erfahren<sup>12</sup>. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ew. Hochwohlgeb. wollen umgehend der k. Belgischen Regierung <br>
hiervon streng vertraulich Mitteilung machen und sie um Erteilung <br>
einer im zweideutigen Antwort binnen 24 Stunden ersuchen<sup>13</sup>. Von <br>
der Aufnahme, welche Ihre Eröffnungen dort finden werden, und <br>
der definitiven Antwort der k. Belgischen Regierung wollen Ew. <br>
Hochwohlgeb. mir umgehend telegraphische Meldung zugehen lassen<sup>14</sup>. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;v.&nbsp; J a g o w <br>

<hr>
<sup>1</sup> Nach dem Konzept. Der Chef des Generalstabs v. Moltke übersandte dem <br>
Auswärtigen Amt unter dem Datum des 26. Juli den von ihm selbst nieder- <br>
geschriebenen »Entwurf zu einem Schreiben an die belgische Regierung« <br>
(Eingangsvermerk: 29. Juli nachm.). Der Entwurf wurde von Stumm ge- <br>
ändert und mit einem Nachtrag versehen, das Ganze wurde nicht als Mit- <br>
teilung an die belgische Regierung, sondern als Erlaß an den Gesandten <br>
in Brüssel gerichtet. Konzept ist von Stumm, Zimmermann und dem <br>
Kanzler paraphiert, das Mundum wurde von Jagow unterzeichnet. — Be- <br>
züglich der vom Gesandten in Brüssel auf Anweisung Jagows später am <br>
Text vorgenommenen Änderungen siehe [[Nr. 648 Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Gesandten in Brüssel, 2. August 1914|Nr. 648]]. Siehe auch [[Nr. 375 Der Staatsekretär des Auswärtigen an den Gesandten in Brüssel, 29. Juli 1914|Nr. 375]]. <br>
<sup>2</sup> Auf dem Konzept der Vermerk von Stumms Hand: »Mundiert v. Gf. <br>
Mirbach. Ab 29. abends durch k. Feldj. [äger].« In einer gleichfalls bei <br>
den Akten befindlichen Abschrift ist das Datum von Stumm geändert in <br>
2. August; darunter der Vermerk von Stumms Hand: (»Veröffentlichung <br>
am 8. August durch Wolffbureau«). <br>
<sup>3</sup> Hinter »Frankreichs« im Entwurf des Generalstabs in Klammer folgendes <br>
(»nach Vereinigung mit einem englischen Expeditionskorps«) von Stumm <br>
gestrichen. <br>
<sup>4</sup> »französischen« aus »französisch-(englischen)« des Generalstabs von Stumm <br>
geändert. <br>
<sup>5</sup> Generalstab hatte »erblickt« statt »gefunden«. <br>
<sup>6</sup> Daher »statt« des Generalstabs: »aber«. <br>
<sup>7</sup> »Deutschland gegenüber einzunehmen« von Stumm geändert <br>
aus ursprünglichem »auf die Seite Deutschlands zu treten«. <br>
<sup>8</sup> Die Worte »beim Friedensschluß« von Stumms Hand beigefügt. <br>
<sup>9</sup> »territorialen« von Stumms Hand beigefügt. <br>
<sup>10</sup> »auf Kosten Frankreichs« von Stumm beigefügt an Stelle von »auf territorialem <br>
Gebiet« des Generalstabs. <br>
<sup>11</sup> Hinter »freundschaftlichen« im Entwurf in Klammer folgendes : »[oder einer <br>
wohlwollend neutralen]«, später gestrichen. <br>
<sup>12</sup> Der Abschnitt »Die k. Regierung erfahren« lautete im Ent- <br>
wurf des Generalstabs: »Die deutsche Regierung gibt sich der Hoffnung <br>
hin, daß die k. Belgische Regierung alle letzterwähnten Vorkomm- <br>
nisse im eigenen Interesse zu verhindern wissen wird. Die gegenwärtige <br>
Krisis würde dann dazu beitragen, die altbewährten freundschaftlichen <br>
Beziehungen beider Nachbarstaaten dauernd zu befestigen«. <br>
<sup>13</sup> Der Generalstab hatte unter dem Entwurf die Bemerkung beigefügt: <br>
»Eine unzweideutige Antwort auf dieses Schreiben muß innerhalb 24 <br>
Stunden nach Überreichung erfolgen, widrigenfalls die Feindseligkeiten <br>
sofort eröffnet werden«. <br>
<sup>14</sup> Der Satz: »Von der Aufnahme zugehen lassen« im Konzept <br>
von Stumms Hand nachträglich mit Bleistift beigefügt.