Nr. 401 Der Botschafter in Petersburg an das Auswärtige Amt, 30. Juli 1914
Telegramm 189 Petersburg, den 30. Juli 19142
Dringend!
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Hatte eben mit Sasonow, der mich um Mitter- |
Wenn Mobilmachung nicht mehr rückgängig zu machen ist — was
nicht wahr ist — , warum hat dann überhaupt der Zar meine Vermitt-
lung 3 Tage nachher angerufen ohne die Erlassung des Mobilmachungs-
befehles zu erwähnen?! Das zeigt doch klar, daß die Mobilmachung ihm
selbst übereilt erschienen ist und er hinterher zur Beruhigung seines
erwachten Gewissens pro Forma diesen Schritt bei uns that, obwohl er
wußte, daß er zu nichts mehr nutze sei, da er sich nicht stark genug
fühlt, die Mobilisierung zu stoppen. Leichtsinn und Schwäche sollen die
Welt in den furchtbarsten krieg stürzen, der auf den Untergang Deutsch-
lands schließlich abzielt. Denn das läßt jetzt für mich keinen Zweifel
mehr zu: England, Rußland u. Frankreich haben sich verabredet — unter
zu Grunde Legung des casus foederis für uns Osterreich gegenüber —
den österreichisch-Serb. Konflikt zum Vorwand nehmend gegen uns den
Vernichtungskrieg zu führen. Daher Greys zynische Bemerkung an
Lichnowsky »solange der Krieg auf Rußland und Österreich beschränkt
bleibe würde England still sitzen, erst wenn loir uns und Frankreich hln-
einmischten würde er gezwungen sein aktiv gegen uns zu werden [«j.
D. h entweder wir sollen unseren Bundesgenossen schnöde verrathen und
Rußland preisgeben — damit den 3Bund sprengen oder für unsere Bundes-
treue von der spel Entente gemeinsam überfallen und bestraft werden, wo-
bei ihrem Neid endlich Befriedigung wird uns gemeinsam total zu rui-
nieren. Das ist in nuce die wahre nackte Situation, die langsam und,
sicher durch Edward VII. eingefädelt, fortgeführt, durch abgeleugnete Be-
sprechungen Englands mit Paris und Petersburg, systematisch ausge-
baut; schließlich durch Georg V. zum Abschluß gebracht und ins Werk
gesetzt wird. Dabei wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit
unseres Verbündeten zum Fallstrick gemacht. Also die berühmte »Ein-
kreisung« Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Thatsache ge-
worden, trotz aller Versuche unsrer Politiker und Diplomaten sie zu
hindern. Das Netz ist uns plötzlich über dem Kopf zugezogen und ho[h]n-
lächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durch-
geführten pure antideutschen Weltpolitik , gegen die wir uns machtlos
erwiesen haben, indem es uns isolirt im Netze zappelnd aus unserer.
Bundestreue zu Österreich den Strick zu unserer Politischen und öko-
nomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunde-
rung erweckt, selbst bei dem, der durch sie zu Grunde geht! Edward VII.
ist nach seinem Tode noch stärker als Ich, der ich lebe! Und da hat es
Leute gegeben[,] die geglaubt haben, man könnte England gewinnen oder
beruhigen, durch diese oder jene kleinen Maßregeln!!! Unablässig, un-
nachgiebig hat es sein Ziel verfolgt, mit Noten, Feiertagsvorschlägen,
scares, Haidane etc. bis es soweit war. Und wir sind Ins Garn gelaufen
und haben sogar das Einertempo im Schiffbau eingeführt in rührendet
Hoffnung England damit zu beruhigen! ! ! Alle Warnungen, alle Bitten
meinerseits sind nutzlos verhallt. Jetzt kommt der Engl. sog. Dank dafür!
Aus dem Dilemma der Bundestreue gegen den ehrwürdigen, alten Kaiser
wird uns die Situation geschaffen, die England den erwünschten Vorwand
giebt uns zu vernichten, mit dem heuchlerischen Schein des Rechtes,
nämlich Frankreich zu helfen wegen Aufrechterhaltung der berüchtigten
balance of Power in Europa, d. h. Ausspielung aller Europ. Staaten zu
Englands Gunsten gegen uns! Jetzt muß dieses ganze Getriebe schonungs-
los aufgedeckt und Ihm öffentlich die Maske christlicher Friedfertigkeit
in der Öffentlichkeit schroff abgerissen werden und die Pharisäische
Fridensheuchelei an den Pranger gestellt werden ! ! Und unsere Consuln
in Türkei und Indien, Agenten etc. müßen die ganze Mohamedan. Welt
gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden
Aufstände entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll
England wenigstens Indien verlieren.
W.
1 Nach der Entzifferung. — Teilweise veröffentlicht im deutschen Weißbuch
vom Jahre 1915 S. 7.
2 Aufgegeben in St. Petersburg 430 vorm., angekommen im Auswärtigen
Amt 710 vorm. Eingangsvermerk: 30. Juli vorm. Abschrift der Entziffe-
rung, unter Fortlassung des Abschnitts »Habe aus Äußerungen . . . . . . . . . . fest-
bleibt«, am 30 Juli an den Kaiser gesandt, der auf dem Rand oben ver-
merkt: »7 h. abds.« Abschrift am 1. August ms Amt zurückgelangt, Reichs-
kanzler, Jagow und Zimmermann nahmen am 1. August von den Rand
bemerkungen des Kaisers Kenntnis.
3 »freundschaftlichen« vom Kaiser zweimal unterstrichen.
4 Am Rand Ausrufungszeichen und Fragezeichen des Kaisers.
5 Siehe Nr. 359.
6 Siehe Nr. 342.
7 Gemeint ist der 29. Juli. Siehe Nr. 378.
8 »nicht mehr möglich« vom Kaiser dreimal unterstrichen.