View source for Nr. 423 Der Staatssekretär des Auswärtigen an eine Reihe deutscher diplomatischer Vertreter im Auslande (abgesandt am 30. und 31. Juli), 30. Juli 1914

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<center>Nr. 423</center>

<center><font size=4>'''Der Staatssekretär des Auswärtigen an eine Reihe deutscher diplomatischer Vertreter im Ausland<sup>1</sup>'''</font></center><br>

Vertraulich!&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp; Berlin, den 30. Juli 1914<sup>2</sup><br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Angesichts der Tatsachen, die die österreichisch-ungarische <br>
Regierung in ihrer Note an die serbische Regierung bekanntgegeben <br>
hat, müssen die letzten Zweifel darüber schwinden, daß das Atten- <br>
tat, dem der österreichisch-ungarische Thronfolger und seine <br>
Gemahlin zum Opfer gefallen sind, in Serbien zum mindesten mit <br>
der Konnivenz von Angehörigen der serbischen Regierung und <br>
Armee vorbereitet worden ist. Es ist ein Produkt der groß- <br>
serbischen Bestrebungen, die seit einer Reihe von Jahren eine Quelle <br>
dauernder Beunruhigungen für die österreichisch-ungarische Mon- <br>
archie und für ganz Europa geworden sind. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;In besonders markanter Form trat der großserbische Chauvi- <br>
nismus während der bosnischen Krisis in die Erscheinung. Nur der <br>
weitgehenden Selbstbeherrschung und Mäßigung der österreichisch- <br>
ungarischen Regierung und dem energischen Einschreiten der <br>
Großmächte war es zuzuschreiben, wenn die Provokationen, <br>
welchen Österreich-Ungarn in dieser Zeit von seiten Serbiens aus- <br>
gesetzt war, nicht zum Konflikt führten. Die Zusicherung künfti- <br>
gen Wohlverhaltens, die die serbische Regierung damals gegeben <br>
hat, hat sie nicht eingehalten. Unter den Augen, zum mindesten <br>
unter stillschweigender Duldung des amtlichen Serbiens, hat die <br>
großserbische Propaganda inzwischen fortgesetzt an Ausdehnung <br>
und Intensität zugenommen. Es würde weder mit der Würde noch <br>
mit ihrem Recht auf Selbsterhaltung vereinbar sein, wollte die <br>
österreichisch-ungarische Regierung dem Treiben jenseits der <br>
Grenze noch länger tatenlos zusehen, durch das die Sicherheit und <br>
die Integrität ihrer Gebiete dauernd bedroht wird. Bei dieser <br>
Sachlage müssen das Vorgehen sowie die Forderungen der öster- <br>
reichisch-ungarischen Regierung als gerechtfertigt angesehen <br>
werden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Antwort der serbischen Regierung auf die Forderungen, <br>
welche die österreichisch-ungarische Regierung am 23. d. M. durch <br>
ihren Vertreter in Belgrad hat stellen lassen, läßt indessen er- <br>
kennen, daß die maßgebenden Faktoren in Serbien nicht gesonnen <br>
sind, ihre bisherige Politik und agitatorische Tätigkeit aufzugeben. <br>
Der österreichisch-ungarischen Regierung wird demnach, will sie <br>
nicht auf ihre Stellung als Großmacht endgültig Verzicht leisten, <br>
nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forderungen durch einen <br>
starken Druck und nötigenfalls unter der Ergreifung militärischer <br>
Maßnahmen durchzusetzen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Einzelne russische Stimmen betrachten es als selbstverständ- <br>
liches Recht und als die Aufgabe Rußlands, in dem Konflikt <br>
zwischen Österreich-Ungarn und Serbien aktiv für Serbien Partei <br>
zu ergreifen. Für die aus einem solchen Schritte Rußlands resul- <br>
tierende europäische Konflagration glaubt die »Nowoje Wremja« <br>
sogar, Deutschland verantwortlich machen zu dürfen, wofern es nicht <br>
Österreich-Ungarn zum Nachgeben veranlaßt. Die russische Presse <br>
stellt hiermit die Verhältnisse auf den Kopf. Nicht Österreich-Un- <br>
garn hat den Konflikt mit Serbien hervorgerufen, sondern Serbien <br>
ist es gewesen, das durch eine skrupellose Begünstigung groß- <br>
serbischer Aspirationen, auch in Teilen der österreichisch-ungari- <br>
schen Monarchie, diese selbst in ihrer Existenz gefährdet und Zu- <br>
stände geschaffen hat, die schließlich in der frevelhaften Tat von <br>
Sarajevo ihren Ausdruck gefunden haben. Wenn Rußland in <br>
diesem Konflikt für Serbien eintreten zu müssen glaubt, so ist das <br>
an sich gewiß sein gutes Recht, Es muß sich aber darüber klar <br>
sein, daß es damit die serbischen Bestrebungen auf Unterhöhlung <br>
der Existenzbedingungen der österreichisch-ungarischen Monarchie <br>
zu den seinigen macht, und daß es allein die Verantwortung dafür <br>
trägt, wenn aus dem österreichisch-serbischen Handel, den alle <br>
übrigen Großmächte zu lokalisieren wünschen, ein europäischer <br>
Krieg entsteht. Diese Verantwortung Rußlands liegt klar zutage <br>
und wiegt um so schwerer, als Graf Berchtold Rußland offiziell er- <br>
klärt hat, es beabsichtige weder serbische Gebietsteile zu erwerben <br>
noch den Bestand des serbischen Königreichs anzutasten, sondern <br>
wolle lediglich Ruhe vor den seine Existenz gefährdenden serbischen <br>
Umtrieben haben. <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die Haltung der k. Regierung in dieser Frage ist deutlich <br>
vorgezeichnet. Die von den Panslawisten gegen Österreich- <br>
Ungarn betriebene Agitation erstrebt in ihrem Endziel mit- <br>
tels der Zertrümmerung der Donaumonarchie die Sprengung oder <br>
Schwächung des Deibundes und in ihrer Folgewirkung eine völlige <br>
Isolierung des Deutschen Reiches. Unser eigenstes Interesse ruft <br>
uns demnach an die Seite Österreich-Ungarns. Die Pflicht, Europa, <br>
wenn irgend möglich, vor einem allgemeinen Kriege zu bewahren, <br>
weist uns gleichzeitig darauf hin, diejenigen Bestrebungen zu <br>
unterstützen, die auf die Lokalisierung des Konflikts hinzielen, ge- <br>
treu den Richtlinien derjenigen Politik, die wir seit nunmehr <br>
44 Jahren im Interesse der Aufrechterhaltung des europäischen <br>
Friedens mit Erfolg durchgeführt haben. Sollte indes wider Er- <br>
hoffen durch ein Eingreifen Rußlands der Brandherd eine Erweite- <br>
rung erfahren, so würden wir getreu unserer Bundespflicht mit der <br>
ganzen Macht des Reichs die Nachbarmonarchie zu unterstützen <br>
haben. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ew. pp. bitte ich, vorstehende Mitteilungen zur Regelung <br>
Ihrer Sprache zu benutzen, <br>

&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;v. &nbsp; J a g o w <br>

<hr>
<sup>1</sup> Nach dem bei den Akten befindlichen, am i. August nach Tanger ab- <br>
gesandten, am 17. August aber als unbestellbar zurückgekommenen metallo- <br>
graphierten Erlaß an den Geschäftsträger in Tanger. Vgl. deutsches <br>
Weißbuch vom Mai 1915, S. 25, Nr. 2. <br>
<sup>2</sup> Der Erlaß wurde gesandt am 30. Juli nach Rom (Botschaft), Brüssel, Haag, <br>
Sofia und Mexiko, am 31. Juli nach Konstantinopel, Madrid, Washington, <br>
Athen, Bern, Bukarest, Kopenhagen, Kristiania, Lissabon, Luxemburg, <br>
Stockholm, Bogota, Caracas, Havanna, Lima, Port au Prince, Santiago, <br>
La Paz, Teheran, Bangkok und Kairo. Das für Guatemala bestimmte <br>
Exemplar des Erlasses ging am 11 . August nach Washington ab. Be- <br>
züglich des Inhalts des Erlasses vgl. auch [[Nr. 100. Der Reichskanzler an die Botschafter in Petersburg, Paris und London, 21. und 22. Juli 1914|Nr. 100]].