Nr. 456 Protokol der Sitzung des k. preußischen Staatsministeriums am 30. Juli 1914

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Nr. 456
Protokoll der Sitzung des k. preußischen Staatsministeriums am 30. Juli 19141


                                             Berlin, den 30. Juli 1914
     Anwesend :
Der Präsident des Staatsministeriums Dr. v. Bethmann Hollweg,
die Staatsminister

   v. Tirpitz,
   Dr. Delbrück,
   Dr. Beseler,
   v. Breitenbach,
   Dr. Sydow,
   D. Dr. von Trott zu Solz,

Dr. Frhr. v. Schorlemer,
Dr. Lentze,
v. Falkenhayn,
v. Loebell,
Kühn;
Exzellenz v. Jagow war verhindert.

Als Kommissar des Reichskanzlers der Unterstaatssekretär Wahnschafife.
Der Unterstaatssekretär Heinrichs.

     Das Staatsministerium trat heute zu einer Sitzung zusammen,
in der folgendes verhandelt wurde:

     1. Der Herr Ministerpräsident teilte mit, er habe die Herren
Staatsminister zu der heutigen Sitzung gebeten, um ihnen einen
Überblick über die augenblickliche politische Lage zu geben, soweit
dies möglich sei. Die Situation schwanke von Stunde zu Stunde
und sei auch jetzt bei den unsicheren Faktoren der Entwicklung
noch zweifelhaft.
     a) S. M. habe eine Verständigung zwischen der Wiener
und der Petersburger Regierung versucht. Die Wiener Re-
gierung habe in Petersburg nach der serbischen Ablehnung ihrer
Forderungen erklärt, keine territorialen Erwerbungen anzustreben und
an dem Bestand des serbischen Staates nicht rütteln zu wollen.
     Seitens der deutschen Regierung sei der Wiener Regierung nahe-
gelegt, in Petersburg zu erklären: Serbien habe nur teilweise die
Erfüllung der Wiener Wünsche zugesagt, zudem sei es in hohem
Maße zweifelhaft, ob es die gegebenen Zusagen halten werde. Die
Wiener Regierung bezwecke daher, sich durch die temporäre Be-
sitznahme eine Garantie für ihre Forderungen und für das Wohl-
verhalten der serbischen Regierung zu verschaffen. Diese gestrige
Demarche sei heute noch nicht beantwortet. Maßgebend für diese
Haltung Deutschlands in dem gegenwärtigen Konflikte seien folgende
Gründe: Es müßte der größte Wert darauf gelegt werden, Rußland
als den schuldigen Teil hinzustellen, und das würde durch eine solche
österreichisch-ungarische Erklärung erreicht werden, welche die Be-
hauptungen der russischen Regierung ad absurdum führe; sodann
sei zu berücksichtigen, daß die serbische Antwort bis auf geringe
Punkte den österreichisch-ungarischen Desiderien tatsächlich zu-
gestimmt habe.
     b) Neben diesen Verhandlungen mit Wien laufe ein Depeschen-
wechsel zwischen Sr. M. und dem Zaren. Der Zar habe in seinem
Telegramm den österreichischen Angriff auf Serbien als einen un-
würdigen Krieg bezeichnet und an die Hilfe des Kaisers appelliert,
um einen europäischen Krieg zu vermeiden. Der Kaiser habe in
seinem Telegramm an den Zaren hervorgehoben, daß alle mon-
archischen Staaten ein Interesse daran hätten, sich gegen die in
Serbien gezüchteten, in Königsmord und Revolution gipfelnden de-
struktiven Tendenzen zu schützen. Diese Depeschen hätten sich
gekreuzt. Der weitere Telegrammwechsel sei noch nicht erledigt,
was umso schwieriger sei, als die russische Mobilisation dazwischen
gekommen sei; die nach Wien gerichteten Vorschläge seien dadurch
mehr oder weniger illusorisch gemacht.
     c) Endlich kämen noch die Vorschläge des englischen Staats-
sekretärs Grey in Betracht, welche dahin gingen, daß Österreich in
Petersburg ähnliche Erklärungen abgeben möge, wie sie deutscher-
seits empfohlen seien. Diese Verhandlungen seien auch noch nicht
zu Ende geführt.
     d) Deutschland und England hätten alle Schritte
getan, um einen europäischen Krieg zu vermeiden. Die
Mobilisierung Rußlands sei zwar erklärt, seine Mobilisierungs-
maßnahmen seien mit den westeuropäischen nicht zu vergleichen.
Die russischen Truppen könnten in diesem Mobilisierungszustande
wochenlang stehen bleiben. Rußland beabsichtige auch keinen
Krieg, sondern sei zu seinen Maßnahmen nur durch Österreich ge-
zwungen. Demgegenüber sei jedoch zu betonen, daß die vier im
Süden der Monarchie mobilisierten österreichisch-ungarischen Korps
keine Spitze gegen Rußland hätten und auch die im Norden, in
Böhmen, mobilisierten Korps angesichts der zweifelhaften politischen
Haltung der Tschechen in erster Linie wohl mehr lokalen Gründen
gälten.
     S. M. sei damit einverstanden, daß vor weiteren Ent-
schlüssen zunächst die oben dargelegte Aktion in Wien
zum Abschluß gebracht werden sollte. Mihtärische Maß-
nahmen : Erklärung der drohenden Kriegsgefahr bedeute die Mobil-
machung und diese unter unseren Verhältnissen — Mobilmachung
nach beiden Seiten — den Krieg. Man könne aber füglich nicht
politische und militärische Aktionen gleichzeitig betreiben. Wahr-
scheinlich werde heute die Entscheidung in Wien über die deutschen
und englischen Vorschläge fallen.
     Was die Haltung der anderen Nationen anlange, so sei die
Hoffnung auf England gleich Null. England werde wohl Partei für
den Zweibund nehmen. Italiens Haltung sei nicht ganz durch-
sichtig. Der österreichisch-serbische Konflikt sei in Italien unpopulär,
weil man dadurch die italienischen Interessen auf dem Balkan ge-
fährdet glaube. Italien fürchte, die schriftlich zugesicherte Hilfe-
leistung nicht in vollem Umfange innehalten zu können. Er habe
auf Österreich dahin eingewirkt, daß es sich mit Italien verstän-
digen solle, dies sei aber bisher noch nicht geschehen, wie über-
haupt Österreich in der Führung seiner Politik sehr schwierig sei.
Auf Rumäniens Hilfe sei nicht zu rechnen, desgleichen nicht auf
Bulgarien, weil die gegenwärtige Regierung wahrscheinlich gestürzt
und durch eine russenfreundliche ersetzt werden würde.
     f)2 Die in Rußland wie in Frankreich getroffenen militärischen
Maßnahmen glichen etwa der »Erklärung der drohenden Kriegsgefahr« 
bei uns. In Rußland seien, was die deutsche Grenze beträfe, die
Grenzwachen verstärkt, und für das Gouvernement Kowno sei der
Kriegszustand erklärt. An der Ostsee seien die Leuchtfeuer gelöscht
und die funken telegraphischen Stationen gesperrt. Im übrigen habe
Rußland noch heute früh versichert, daß keine Mobilmachung gegen
Deutschland erfolgt sei.
     Frankreich habe den Kriegszustand erklärt, aber nur vor-
bereitende defensive Maßnahmen zugestanden. Die sonstigen Gerüchte
seien unkontrollierbar.
     g) Der Herr Ministerpräsident betonte zum Schluß, daß alle
Regierungen — einschließlich Rußlands — und die große Mehrheit
der Völker an sich friedfertig seien, aber es sei die Direktion ver-
loren und der Stein ins Rollen geraten. Als Politiker gäbe er
jedoch, solange seine Demarche in Wien noch nicht abgeschlagen
sei, die Hoffnungen und Bemühungen auf Erhaltung des
Friedens noch nicht auf. Die Entscheidung könne in kurzer
Zeit erfolgen, dann werde eine andere Marschroute eingeschlagen.
Die allgemeine Stimmung sei in Deutschland gut (was allseitig be-
stätigt wurde). Auch von der Sozialdemokratie und dem sozial-
demokratischen Partei vorstände sei nichts Besonderes zu befürchten,
wie er aus Verhandlungen mit dem Reichstagsabgeordneten Südekum
glaube schheßen zu können. Von einem Generalstreik oder Partial-
streik oder Sabotage werde keine Rede sein.
     2. Herr Staatsminister v. Tirpitz führte hierauf aus, daß im
Falle drohender Kriegsgefahr von Sr. M. für die Marineverwaltung
die »Sicherung« angeordnet werden müsse, um für die Sicherung der
Häfen, des Kaiser -Wilhelm-Ksinals, die Flußmündung der Nordsee,
für die Überwachung des Schiffsverkehrs usw. die erforderlichen
Vorsichtsmaßregeln treffen zu können. Die hauptsächlichsten Maß-
nahmen könne er zwar auch auf eigene Faust veranlassen, dies
werde zwar weniger Aufsehen erregen, aber nicht so vollständig
wirken.
     Der Herr Ministerpräsident betonte, daß militärischerseits der
Wunsch geäußert sei, die »drohende Kriegsgefahr« auszusprechen, er habe
jedoch seinen oben dargelegten abweichenden Standpunkt
Sr. M. gegenüber erfolgreich vertreten, und man habe sich
auf den militärischen Bahnschutz beschränkt.
     Die Herren Staatsminister v. Tirpitz und v. Falkenhayn betonten
demgegenüber, daß die »drohende Kriegsgefahr« schon wegen Ein-
berufung der Reserven weitergehe als die »Sicherung«, letztere auch
nicht veröffentlicht werde.
     Nachdem auch der Herr Staatsminister v. Breitenbach hervor-
gehoben hatte, daß die »Sicherung« etwa den getroffenen Landmaß-
nahmen entsprechen würde, erklärte der Herr Ministerpräsident,
daß er gegen die »Sicherung« als einer rein defensiven Maßnahme
keine Bedenken habe, und überließ dem Herrn Staatsminister v. Tirpitz,
einen entsprechenden Antrag bei Sr. M. zu stellen.
     3. Auf Anfrage des Herrn Justizministers wurde es für zweck-
mäßig gehalten, die schwebenden Verhandlungen, betr. die Straf-
verfolgung der Redner, welche zum Massenstreik aufgefordert hätten,
einstweilen ihren Gang gehen zu lassen.
     Bei den folgenden Verhandlungen hatten sich der Herr Minister-
präsident und die Herren Staatsminister v. Tirpitz und v. Falken-
hayn entfernt und der Herr Staatsminister Dr. Delbrück den Vorsitz
übernommen.
     4. Von dem Herrn Staatsminister Dr. Freiherrn v. Schorlemer
wurde die Frage angeregt, ob ein Getreideausfuhrverbot zu erlassen sei.
     Der Herr Staatsminister v. Breitenbach teilte mit, daß er be-
reits die östlichen Eisenbahndirektionen angewiesen habe, Getreide-
transporte mid Automobile an der Grenze anzuhalten ; diese Maß-
nahmen könnten auf alle Bezirke ausgedehnt werden.
     Der Herr Staatsminister Dr. Delbrück hob hervor, daß ein gene-
relles Ausfuhrverbot der Zustimmung des Bundesrats bedürfe, welche
morgen beschafft werden könnte.
     Der Herr Staatsminister Dr. Sydow legte Wert auf ein gene-
relles formgerechtes Ausfuhrverbot, welches automatisch auch gegen
Österreich wirke. Transporte nach bestimmten Ländern, wie z. B.
nach der Schweiz, welche nach Mitteilung des Herrn Staatsministers
Dr. Delbrück nicht beanstandet würden, könnten dann durch be-
sondere Anordnung des Herrn Reichskanzlers genehmigt werden.
     Nach weiteren Erörterungen, welche sich insbesondere auch auf
die Frage der Viehausfuhr bezogen, faßte der Herr Staatsminister
Dr. Delbrück das Ergebnis der Verhandlungen dahin zusammen, daß
das Staatsministerium mit dem Erlaß eines Aus- und Durchfuhr-
verbotes für landwirtschaftliche und gärtnerische Erzeugnisse, mit
einzelnen noch näher zu bestimmenden Ausnahmen, sowie mit einem
Aus- und Durchfuhrverbot für Automobile und für Pferde ein-
verstanden sei.
     5. Der Herr Staatsminister Dr. Delbrück machte Mitteilung von
den in der Anlage bezeichneten 25 Entwürfen von Gesetzen und Ver-
ordnungen, welche im Falle der Mobilmachung erlassen werden
müssen und durch den Bundesrat vorgelegt werden sollten.
     Dieselben wurden einer Erörterung unterzogen, bei welcher der
Herr Staatsminister Dr. Beseler Bedenken äußerte, ob bei der Ein-
berufung des gesamten Landsturms, auch des zweiten Aufgebots,
die Justizpflege ordnungsmäßig aufrechterhalten werden könne,
worauf von anderer Seite auf den Weg der Reklamation hin-
gewiesen wurde.
     Im übrigen wurden gegen die Entwürfe Bedenken nicht erhoben.
     Der Herr Staatsminister v. Loebell fragte an, ob im Falle der
Kriegserklärung die Einberufung des Landtags beabsichtigt sei.
Seinerseits seien zwar für diesen Fall keine Gesetzesvorlagen zu
machen, indessen glaube er in der Einberufung eine eindrucksvolle
Rücksichtnahme auf den Landtag erblicken zu sollen.
     Die Beschlußfassung wurde ausgesetzt.

   gez. v. Bethmann Hollweg
   v. Breitenbach
   v. Schorlemer
   v. Tirpitz
   Sydow
   Lentze

v. Loebell
Delbrück
v. Trott zu Solz
v. Falkenhayn
Kühn

                  Gelesen : v. Jagow


1 Nach einer vom preußischen Staatsministerium zur Verfügung gestellten
Abschrift.
2 Buchstabe e) irrtümlich ausgelassen.