Nr. 5. Der Botschafter in London an den Reichskanzler, 27. Juni 1914
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- London, den 24. Juni 19142 3
- Ich benutzte meinen heutigen Besuch, um Sir Edward Grey den
- Dank Ew. Exz. für seine offenen und geraden Erklärungen im Unter-
- hause auszusprechen, durch welche er den Gerüchten über ein an-
- gebhches englisch-russisches Marineabkommen entgegengetreten ist.
- Ich knüpfte hieran die Bemerkung, daß Ew. Exz. seine Ausführungen
- um so lebhafter begrüßt hätten, als dieselben nicht unwesentlich
- dazu beitrügen, die Befürchtungen zu zerstreuen, welche namentlich
- in neuester Zeit weite Kreise des deutschen Volkes hinsichtlich unserer
- auswärtigen Lage erfaßt hätten. In erster Linie sei es Rußland,
- welches dieser Beunruhigung und den daraus hervorgehenden Be-
- strebungen für eine weitere Vermehrung unserer Rüstungen Nahrung
- zuführe, und ich könne in dieser Hinsicht ganz besonders auf den
- Artikel der »Nowoje Wremja« verweisen, welcher in Deutschland
- unliebsames Aufsehen erregt hätte. Angesichts der Möglichkeit,
- daß ein Balkankrieg wiederum ausbräche und daß Rußland sich als-
- dann zu einer etwas aktiveren Auslandspolitik entschlösse, erschien
- es uns von größter Wichtigkeit, daß die intime Fühlungnahme,
- welche zwischen uns während der letzten Krise bestand, auch allen
- zukünftigen Ereignissen gegenüber aufrechterhalten bliebe, um auf
- Grundlage gemeinsamer Verabredung einer kriegerischen Politik er-
- folgreich begegnen zu können. Ich wies den Minister ferner darauf
- hin, daß nur durch die Aufrechterhaltung der bisherigen deutsch-
- britischen Intimität, gepaart mit unserer Überzeugung, daß er auch
- in Zukunft bestrebt sein werde, kraft seines weitreichenden Einflusses
- in Paris und Petersburg allen abenteuerlichen Regungen entgegen-
- zutreten, es der Kaiserlichen Regierung möglich sein werde, das auch
- bei uns zeitweise überhandnehmende Rüstungsfieber niederzuhalten
- und den Rahmen der bestehenden Wehrgesetze einzuhalten. Ich
- vermied es dabei absichtlich, auf unser Flottengesetz näher ein-
- zugehen, da ich dieses heikle Thema mit dem Minister seit meiner
- Ankunft in London noch nie berührt habe und er auch es bisher
- sorgsam unterlassen hat, diesen Gegenstand mit mir zu erörtern.
- Der Minister nahm meine Eröffnungen mit sichtlicher Befriedigung
- zur Kenntnis und sagte, daß es ebenso sein Bestreben sei, mit uns
- auch ferner Hand in Hand zu gehen und allen auftretenden Fragen
- gegenüber in enger Fühlung zu bleiben. Er habe in dieser Absicht
- soeben mit mir die gegenwärtige orientalische Lage besprochen und
- glaube, daß dieser Weg für unsere beiderseitigen Ziele der geeignete
- sei. Was Rußland beträfe, so habe er nicht den geringsten Grund,
- an den friedlichen Absichten der russischen Regierung zu zweifeln.
- Daß Graf Benckendorff hier keine deutschfeindliche Politik betreibe,
- brauche er mich nicht erst zu versichern. Kaiser Nikolaus und
- Herr Sasonow sprächen sich stets in friedlichem Sinne Sir George
- W. Buchanan gegenüber aus; nur sei es nicht zu leugnen, daß Herr
- Sasonow den Wunsch hege, gewissermaßen als Gegengewicht gegen
- den festgefügten Block des Dreibundes den Dreiverband etwas kräftiger
- in die Erscheinung treten zu lassen. Was aber den Artikel der
- »Nowoje Wremja« beträfe, auf den ich angespielt hätte, so sei er
- ihm, dem Minister, überhaupt nicht bekannt. Lacliend fügte er
- hinzu, er habe erst gestern abend einen heftigen Angriff des gedachten
- Blattes gegen Großbritannien zu Gesicht bekommen wegen des per-
- sischen ölab komme ns. Was aber Frankreich anlange, so wisse er
- aus guter Quelle und würde in dieser Auffassung auch durch fremde,
- z. B. amerikanische Nachrichten bestärkt, daß die Franzosen nicht
- die geringste Lust zu einem Kriege verspürten.
- Es bestünden, so sagte mir Sir Edward, keine nicht veröffent-
- lichten Abmachungen zwischen Großbritannien und den Verbands-
- genossen, Er könne mir dies wiederholen, wie er es im Parlament
- erklärt habe, und er freue sich, hinzulügen zu können, daß von ihm
- aus niemals etwas geschehen werde, um diesem Verhältnis eine gegen
- Deutschland gerichtete Spitze zu geben. Er glaube auch, daß in
- den letzten Zeiten bei uns über diese Frage eine befriedigtere Auf-
- fassung Platz gegriffen habe. Er wolle aber mit mir ganz offen sein
- und wünsche nicht, daß ich mich zu irrigen Auffassungen verleiten
- ließe, und möchte daher die Gelegenheit benutzen, um mir zu sagen,
- daß trotz obiger Tatsachen sein Verhältnis zu den beiden Genossen
- nach wie vor ein sehr intimes sei und dasselbe nichts von seiner
- früheren Festigkeit eingebüßt habe. Über alle wichtigen Fragen
- stände er mit den betreffenden Regierungen in dauernder Fühlungnahme.
- Ich dankte dem Minister für seine vertrauensvollen Eröffnungen,
- die er in freundschaftlich-gemütlicher Form vortrug, und erwiderte,
- daß für uns kein Grund vorläge, daran Anstoß zu nehmen, solange
- er seinen mächtigen Einfluß zugunsten des Friedens und der Mäßigung
- zum Ausdruck brächte4.
- Lichnowsky
1 Nach der Ausferügung.
2 Eingangsvermerk des Auswärtigen Amts : 27. Juni vorm.
3 Siehe Nr. 3.
4 Siehe Nr. 6, Nr. 20 Anm. 3 und Nr. 30 Anm. 3.