View source for Nr. 553 Aus dem Protokoll der siebenundzwanzigsten Sitzung des Bundesrats, 1. August 1914

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<center>Nr. 553</center>

<center><font size=4>'''Aus dem Protokoll der siebenundzwanzigsten Sitzung des Bundesrats'''</font><br>
(§§ 664)</center><br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Geschehen B e r l i n , den 1. August 1914 <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;D a r s t e l l u n g &nbsp; d e r &nbsp; p o l i t i s c h e n &nbsp; L a g e <br>
Der Vorsitzende<sup>1</sup> erklärte: <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;»Wider unseren Willen und gegen alle unsere Bemühungen <br>
bricht, wenn Gott nicht noch in letzter Stunde ein Wunder tut, <br>
über den Frieden Europas und Deutschlands eine Krisis herein, <br>
wie sie so schwer noch nicht dagewesen ist. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Der Anlaß ist den Hohen verbündeten Regierungen be- <br>
kannt. Am 28. Juni dieses Jahres ist der österreichische Thron- <br>
folger und seine Gemahlin ermordet worden. Die Unter- <br>
suchungen haben ergeben, daß die langjährige großserbische Be- <br>
wegung, die sich zum Ziele gesetzt hat, die Existenz Österreich- <br>
Ungarns zu unterhöhlen, in der Freveltat von Sarajevo Aus- <br>
druck gefunden hat. Es war nicht nur das Recht, sondern die <br>
Pflicht Österreich-Ungarns, gegen diese Bewegung einzu- <br>
schreiten. Kaiser Franz Joseph hat uns von den zu unter- <br>
nehmenden Schritten Kenntnis gegeben. Wir haben ein eigenes <br>
Interesse daran, daß die Österreichisch-Ungarische Monarchie stark <br>
erhalten wird, daß sie nicht untergeht in dem Kampfe mit den <br>
Südslawen, über die Rußland glaubt die Protektorrolle spielen <br>
zu können oder zu müssen. Würde der österreichische Staat <br>
vernichtet, so würde damit zugleich an die Wurzeln des Deut- <br>
schen Reiches gegriffen. Unter diesem Gesichtspunkt wird die <br>
Politik geleitet, die wir seit 30 Jahren verfolgt haben. Deshalb <br>
haben wir auch, als Österreich-Ungarn uns mitteilte, daß es <br>
einschreiten müsse, geantwortet: Darüber, was ihr zu tun habt, <br>
maßen wir uns kein Urteil an; das ist nicht unsere Sache. Aber <br>
es ist selbstverständlich, daß, wenn der Bündnisfall eintritt, wir <br>
treu an eurer Seite stehen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Das Ultimatum Österreichs an Serbien und die Antwort <br>
Serbiens sind bekannt. Serbien ist in seiner Antwort in ge- <br>
wissen Beziehungen den österreichischen Forderungen entgegen- <br>
gekommen, hat aber viele Zusagen stark verklausuliert und <br>
wichtige Forderungen abgelehnt. Die geschichtlichen Er- <br>
fahrungen, die Österreich mit Serbien gemacht hat, haben er- <br>
wiesen, daß bloße Zusicherungen Serbiens keinen Wert haben, <br>
daß vielmehr tatsächliche Garantien gegeben werden müssen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Den Konflikt, der nunmehr zwischen Österreich und Ser- <br>
bien ausbrach, wollten wir lokalisieren. Diese Absicht haben <br>
wir von Anfang an bei allen Kabinetten vertreten. Bei allen <br>
haben wir Zustimmung gefunden, außer bei Rußland, das von <br>
vornherein erklärte, es erscheine ihm unmöglich, daß Serbien <br>
und Österreich-Ungarn ihren Konflikt allein ausfechten. So <br>
spitzte sich die Lage zu, obwohl England bereit war, zu ver- <br>
mitteln, damit nicht aus dem österreichisch-serbischen Konflikt <br>
ein österreichisch-fussischer sich entwickelte. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Während dieser Zeit traf Rußland im geheimen militärische <br>
Vorkehrungen, die sich zunächst gegen Österreich-Ungarn <br>
richteten. Während dieser Vorbereitungen trat Rußland an <br>
uns heran, wir möchten in Wien die Vermittlung übernehmen. <br>
Dies geschah durch ein Telegramm des Zaren an den Kaiser. — <br>
Ich will die Phasen der Entwickelung nur kurz berühren, da ich <br>
bereits in einem Communique in der Norddeutschen Allgemeinen <br>
Zeitung die Vorgeschichte der gegenwärtigen Krisis dargelegt <br>
habe. — In diesem Telegramm bittet der Zar den Kaiser in <br>
dringlichen Worten unter Berufung auf die traditionelle <br>
Freundschaft, darauf hinzuwirken, daß Österreich-Ungarn <br>
seine Forderungen nicht zu weit stellt. S. M. hat darauf,  <br>
obwohl wir immer die Auffassung vertreten haben, der Konflikt<br> 
zwischen Österreich und Serbien gehe nur diese Staaten etwas <br>
an, sich sofort bereit erklärt, die Vermittlerrolle zu über- <br>
nehmen, um den europäischen Frieden zu wahren, und dies noch <br>
an demselben Tage dem Zaren mitgeteilt. In derselben Zeit <br>
hat die russische Regierung unter den stärksten Beteuerungen <br>
versichert, daß gegen uns keinerlei militärische Maßnahmen <br>
getroffen wären. Wir haben darauf die Vermittelungsaktion in <br>
Wien in Gang gesetzt; sie richtete sich auf folgendes: <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Österreich-Ungarn hatte wiederholt in Petersburg erklärt, <br>
daß es keinerlei territoriale Erwerbungen in Serbien beabsichtige, <br>
daß es sich vielmehr nur Ruhe verschaffen wolle gegen die groß- <br>
serbischen Umtriebe. Hieraus zogen wir die Folgerung, <br>
Österreich anzuraten, es möge, wenn dies sein Standpunkt sei, <br>
diesen nochmals feierlich in Petersburg erklären lassen und dem- <br>
gemäß den Zweck seines militärischen Eingreifens dahin fest- <br>
stellen, daß es durch die Okkupation serbischer Gebietsteile nur <br>
ein Faustpfand für die Erfüllung seiner Forderungen in die <br>
Hand bekommen wolle. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Auf ähnlichen Bahnen bewegte sich der Vermittelungsvor- <br>
schlag Englands, den wir an die österreichische Regierung <br>
weitergegeben haben mit der Bitte, ihn in ernsthafte Erwägung <br>
zu nehmen. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Während dieser Verhandlungen überraschte uns am 30. Juli <br>
die Mobilmachung der russischen Korps gegen Österreich-Ungarn. <br>
Der Kaiser hat sofort in einem Telegramm den Zaren darauf <br>
hingewiesen, daß durch diese Maßnahmen die Vermittelungs- <br>
aktion erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werde, denn <br>
es sei ganz klar, daß, wenn Rußland gegen Österreich-Ungarn <br>
mobil mache, es für Deutschland als Vermittler ungeheuer <br>
schwer sei, der österreichisch-ungarischen Regierung Rat- <br>
schläge zu erteilen. — Gleichwohl haben wir unsere Ver- <br>
mittelungsaktion fortgesetzt. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Gestern sollte die Entscheidung fallen, ob Wien sich im <br>
Sinne unseres oder des englischen Vorschlags an Rußland <br>
wenden sollte. Jedenfalls hatte Österreich-Ungarn auf unsere <br>
Veranlassung die direkten Verhandlungen mit Rußland, die ab- <br>
gebrochen waren, wieder aufgenommen. Gestern wurde also <br>
in Wien über eine Verständigung verhandelt, und wir sind <br>
hierbei mit unseren Ratschlägen bis an die äußerste Grenze <br>
dessen gegangen, was man einer Großmacht — noch dazu einer <br>
verbündeten Großmacht — zumuten konnte. Wir taten dies <br>
im Verfolg unserer seit 43 Jahren befolgten Friedenspolitik. <br>
In diesem Augenblicke machte Rußland seine gesamte Streit- <br>
macht zu Wasser und zu Lande mobil. Zwei Tage vorher war <br>
noch die feierliche Versicherung abgegeben worden, daß gegen <br>
uns keinerlei Maßnahmen getroffen würden. In Wirklichkeit <br>
liefen aber schon fortgesetzt Meldungen über derartige Maß- <br>
nahmen ein. Die allgemeine Mobilmachung können wir nur ali <br>
einen gegen uns gerichteten feindlichen Akt auffassen. Sie <br>
führt für uns eine Situation herbei, aus der wir, wenn wir <br>
unsere Ehre und Sicherheit nicht preisgeben wollen, nur durch <br>
die Tat herauskommen können. Es ist nichts anderes als eine <br>
Provokation, wenn während unserer Vermittelungstätigkeit <br>
gegen uns mobilisiert wird. Rußland versucht die Sache so <br>
darzustellen, daß in der Mobilisation keine feindliche Handlung <br>
gegen uns zu erblicken sei. Wollten wir uns dieser Auffassung <br>
anschließen, so würden wir uns versündigen an der Sicherheit <br>
unseres Vaterlandes. Deutschland hat mit einer bewunderungs- <br>
würdigen, vielleicht kaum noch zu entschuldigenden Ruhe den <br>
Kriegsvorbereitungen in Rußland und in Frankreich zugesehen, <br>
die zwar nicht die Mobilmachung selbst bedeuten mochten, <br>
diese aber ungeheuer zu beschleunigen geeignet waren. Wir <br>
gerieten dadurch in die Gefahr, den Vorsprung, welcher in <br>
der schnelleren Mobilisierung unserer Truppen liegt, zu ver- <br>
lieren; wir schwebten in der Gefahr, in kurzer Frist eine <br>
kriegsbereite, schlagfertige Armee in Ost und West an <br>
unseren Grenzen zu haben ; wir durften nun nicht mehr untätig <br>
bleiben, sollten nicht preußische Gebietsteile des Ostens be- <br>
setzt und gleichzeitig im Westen das Reichsland gefährdet <br>
werden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Daher haben wir uns verpflichtet gefühlt, auf die Mobil- <br>
machung an Rußland das Ultimatum zu richten, binnen <br>
12 Stunden die Mobilmachung einzustellen, widrigenfalls wir <br>
zur Mobilmachung schreiten müßten, und hinzugefügt, es be- <br>
stehe wohl darüber volle Klarheit, was bei uns die Mobil- <br>
machung bedeute. In dieser Situation war es nicht zu ver- <br>
meiden, daß S. M. gestern den Zustand der drohenden <br>
Kriegsgefahr erklärt hat. Gleichzeitig haben wir an Frank- <br>
reich unter Darlegung unseres Standpunkts die Anfrage ge- <br>
richtet, wie sich Frankreich in einem deutsch-russischen Kriege <br>
verhalten würde. In dem Ultimatum an Rußland haben wir <br>
eine sehr kurze Frist gesetzt, weil die eigene Sicherheit einen <br>
weiteren Aufschub der militärischen Vorbereitungen nicht mehr <br>
gestattet. Die Antwort ist heute um 12 Uhr mittags fällig <br>
gewesen. Ich weiß noch nicht, wie sie lautet; mit Rücksicht <br>
auf die Überlastung des Telegraphennetzes werde ich wohl noch <br>
einige Stunden auf sie warten müssen. Ich muß aber besorgen, <br>
daß Rußland unsere Forderung nicht erfüllen wird. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Die französische Antwort ist um i Uhr nachmittags <br>
fällig. Wir wissen nicht den genauen Wortlaut des Bündnis- <br>
vertrags zwischen Frankreich und Rußland. Nach allem aber, <br>
was uns über diesen Vertrag bekannt ist, müssen wir be- <br>
fürchten, daß Frankreich sich nicht wird dem entziehen können, <br>
aktiv auf die Seite Rußlands zu treten. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Wenn die russische Antwort ungenügend ausfällt und von <br>
Frankreich nicht eine absolut einwandfreie Neutralitätser- <br>
klärung kommt — auf einer vollständig sicheren Neutralitäts- <br>
erklärung Frankreichs müssen wir nach Lage der Verhältnisse <br>
unbedingt bestehen — , so wird der Kaiser der russischen Re- <br>
gierung erklären lassen, er müsse sich in einem von Rußland <br>
provozierten Kriegszustande mit Rußland betrachten, und an <br>
Frankreich wird er erklären lassen, daß wir mit Rußland im <br>
Kriege leben und, da Frankreich seine Neutralität nicht garan- <br>
tiere, annehmen müssen, daß wir uns auch mit Frankreich im <br>
Kriegszustande befinden. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ich muß diese Erklärungen hier noch als bedingte aus- <br>
sprechen, da ich nicht weiß, wie die Antworten lauten werden. <br>
Ich wollte dem Bundesrate jedoch diese Darlegungen schon <br>
jetzt machen, um keine Zeit mehr zu verlieren. <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Ich hoffe, der Bundesrat hat aus meinen Darlegungen die <br>
Überzeugung gewonnen, daß Deutschland entsprechend der von <br>
ihm stets befolgten Friedenspolitik bis zuletzt für die Erhaltung <br>
des Friedens gewirkt hat. Die von Rußland ausgegangene <br>
Provokation aber können wir nicht ertragen, wenn wir nicht <br>
als Großmacht in Europa abdanken wollen. Dabei werden wir <br>
die Konsequenzen des zwischen Rußland und Frankreich be- <br>
stehenden Bündnisses auch unsererseits zu ziehen haben. Ich <br>
kann mit gutem und reinem Gewissen die Zustimmung der <br>
Hohen verbündeten Regierungen zu den Maßnahmen erbitten, <br>
die ich soeben vorgetragen habe. Wir haben den Krieg nicht <br>
gewollt, er wird uns aufgezwungen. Der Krieg wird von dem <br>
deutschen Volke das Äußerste an Opfern verlangen, was von <br>
ihm je verlangt worden ist. Wir vertrauen aber, da wir den <br>
Krieg nicht herbeigeführt haben, sondern ihn abwenden <br>
wollten, auf Gottes Hilfe und werden mutig und entschlossen <br>
in den Kampf ziehen, den wir führen müssen um die Ehre, <br>
Freiheit und Stärke des Deutschen Reichs.« <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;Nachdem der Reichskanzler hierauf die Zustimmung der ver- <br>
bündeten Regierungen dazu erbeten und einstimmig erhalten hatte, <br>
daß, falls von Rußland und Frankreich genügende Erklärungen <br>
nicht abgegeben werden sollten, S. M. der Kaiser diesen beiden <br>
Mächten erklären lasse, sie hätten den Kriegszustand mit dem <br>
Deutschen Reiche herbeigeführt, fügte er hinzu: <br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;»Sonach haben meine Darlegungen die allgemeine Zustim- <br>
mung der Hohen verbündeten Regierungen gefunden. Wenn <br>
nun die eisernen Würfel rollen, wolle Gott uns helfen.« <br>

<hr>
<sup>1</sup> d. h. der Reichskanzler.