Nr. 6b. Der Reichskanzler an den Botschafter in Wien, 2. Juli 1914
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- Telegramm 107 Berlin, 2. Juli 19142
- Infolge der aus Sarajevo eingegangenen Warnungen3, von denen
- eine erste übrigens schon aus dem April d. J. datiert, habe ich
- S. M. den Kaiser bitten müssen, die Reise nach Wien aufzugeben.
- Bestimmend war für mich, daß es sich bei dieser Reise nicht um
- einen Akt staatlicher oder politischer Notwendigkeit, sondern um
- eine über die Forderungen der Etikette hinausgehende freiwillige
- Bekundung freundschaftlicher Gesinnungen handelt, daß der Frevel-
- tat von Sarajevo anscheinend ein weitverzweigtes Komplott zu-
- grunde liegt, und daß Attentate bekanntermaßen eine suggestive
- Wirkung auf verbrecherische Elemente ausüben. Aus diesen Er-
- wägungen habe ich die Verantwortung für eine nicht zwingende
- Exposition Sr. M. in fremdem Lande nicht übernehmen können.
- Der Öffentlichkeit gegenüber wird die Aufgabe der Reise mit
- körperlicher Indisposition Sr. M. motiviert werden. S. M. wünschen
- indes, daß S. M. dem Kaiser Franz Joseph persönlich die wahre Ur-
- sache mitgeteilt werde. S. M. haben deshalb die nachstehende In-
- struktion für Ew. pp. Allerhöchst selbst niedergeschrieben:
- »An H. v. Tschirschky für S. M. Kaiser Franz Joseph
- S. M. sind durch S. Exz. den Reichskanzler informiert worden,
- daß aus Sarajevo durch Vertrauensleute des deutschen Konsuls
- Sr. Exz. eine Warnung zugegangen sei, die von einer Reise nach
- Wien seitens des deutschen Kaisers abraten. S. Exz. der Reichs-
- kanzler haben daraufhin Sr. M. als sein verantwortlicher Ratgeber
- bestimmt erklärt, die Verantwortung nicht übernehmen zu können,
- und S. M. gebeten, die Reise zu unterlassen. S. M. haben sich den
- Gründen nicht verschließen können und schweren Herzens in tiefem
- Schmerz sich zur Aufgabe derselben entschlossen. S. M. haben den
- k. Botschafter beauftragt, persönliche Meldung sofort an Kaiser Franz
- Joseph zu machen imd auszusprechen, wie schwer der Entschluß ihm
- geworden sei. Einerseits, weil er als Mangel an persönlichem Mut
- ausgelegt werden könnte, andererseits, weil S. M. dadurch verhin-
- dert werde, dem Kaiser tröstend und leidmittragend zur Seite zu
- stehen, sowie auch dem ganzen österreichischen Volke am Tage der
- Trauer nahe sein zu können. Schluß.«
- Ew. pp. ersuche ich ergebenst, diesen Allerhöchsten Auftrag
- schleunigst in geeigneter Form zur Ausführung zu bringen.
- Bethmann Hollweg
1 Nach dem Konzept von des Reichskanzlers Hand.
2 1020 vorm, zum Haupttelegraphenamt gegeben
3 Siehe Nr. 6 a