Nr. 9. Der Botschafter in Wien an das Auswärtige Amt, 3. Juli 1914
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Nr. 9
Der Botschafter in Wien an das Auswärtige Ämt1
- Telegramm 81 Wien, den 2. Juli 19142
- Habe mich soeben Allerhöchsten Auftrags bei Sr. M. dem Kaiser
- Franz Joseph entledigt, der die Gnade hatte, mich fast eine Stunde
- bei sich zu behalten. S. M. der Kaiser Franz Joseph lassen Sr. M.
- herzlichst für die eingehende Benachrichtigung danken. So tief und
- aufrichtig er bedauere, S. M. nicht hier begrüßen zu können, so
- würdige er andererseits durchaus die zwingenden Gründe, die ein
- Aufgeben der Reise in diesem Augenblick geboten hätten erscheinen
- lassen. Es sei auch für ihn eine Erleichterung, S. M. nicht den
- Zufälligkeiten einer Auslandsreise ausgesetzt zu wissen. Die War-
- nungen aus Sarajevo und aus Semlin, die auch hier eingelaufen
- seien, seien leider so ernst, daß sie unmöglich hätten unberück-
- sichtigt bleiben können. Freilich hätte er sehr gern S. M. jetzt bei
- sich gesehen, um auch so mancherlei Politisches mit ihm zu be-
- sprechen. »Denn ich sehe sehr schwarz in die Zukunft«, sagten S. M.,
- »und die Zustände da unten werden mit jedem Tage beunruhigender.
- Ich weiß nicht, ob wir noch länger werden ruhig zusehen können
- und ich hoffe, daß auch Ihr Kaiser die Gefahr ermißt, die für die
- Monarchie in der serbischen Nachbarschaft liegt. Was mich ganz
- besonders beunruhigt, das ist die russische Probemobilisierimg, die
- für den Herbst geplant ist, also gerade in einer Zeit, wo wir hier
- den Rekruten Wechsel haben. Herr von Hartwig ist ja der Herr in
- Belgrad, und Paschitsch tut nichts, ohne ihn zu fragen.«
- Der Kaiser sprach dann noch eingehend über die politische
- Lage im allgemeinen. Ich darf mir hierüber weiter gehorsamste
- Berichterstattung vorbehalten.
- S. M. der Kaiser Franz Joseph ersuchte mich beim Abschied noch-
- mals, Sr. M. seinen aufrichtigsten Dank für die durch mich erfolgte Mit-
- teilung zu übermitteln. S. M. könne versichert sein, daß er, so schmerz-
- lich ihn das Fernbleiben Sr. M. berühre, es doch als eine Beruhigung
- empfinde, daß der Kaiser die Reise hierher aufgegeben habe.
- S. M. der Kaiser Franz Joseph sah sehr wohl aus. Höchst-
- derselbe meinte zwar, er habe seine Kraft noch nicht wieder in
- vollem Maße wiedergewonnen, doch sei der Appetit gut und er hoffe,
- daß die gute Luft in Ischl, wohin er sobald als möglich zurückzu-
- kehren gedenke — voraussichtlich nächsten Montag — , die letzten
- Spuren der überstandenen Krankheit beseitigen werde3.
- Tschirschky
1 Nach der Entzifferung.
2 Aufgegeben in Wien 2. Juli 105 nachm.; angekommen im Auswärtigen Amt
3. Juli 1212 vorm. Eingangsvermerk: 3. Juli vorm.
3 Siehe Nr. 11.