VIII. Die Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich

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     Die auf zwölf Stunden befristete Anfrage an  R u ß l a n d  wurde
vom deutschen Botschafter in Petersburg um Mitternacht vom
31. Juli zum 1. August übergeben (D. Nr. 536). Der russische
Außenminister „verwies wieder auf technische Unmöglichkeit,
Kriegsmaßnahmen einzustellen, und versuchte, mich (den Bot-
schafter), von neuem zu überzeugen," daß die russische Mobil-
machung mit der deutschen „nicht zu vergleichen sei". Sasonow
erinnerte sich also sehr wohl an das, was ihm viermal über die Be-
deutung der deutschen Mobilmachung gesagt worden war. Die
Kritik, daß „selbst der leiseste Hinweis" fehlte, daß „die Mobil-
machung Deutschlands gleichbedeutend sei mit einer Kriegser-
klärung" (K, Seite 139) — genauer: mit „Krieg" — ist sonach unbe-
gründet und verfehlt. Auf die Frage nun, ob Rußland Frieden
zu halten gewillt sei, „auch falls eine Einigung mit Österreich nicht
erfolge", wurde keine bejahende Antwort erteilt. Die Stunde des
Eintreffens der am 1. August 10 vormittags abgesandten Meldung
über die vorstehende Unterredung ist ausnahmslos in den Akten
nicht vermerkt. Der Bericht muß jedoch bei der um die Mittagszeit
abgehaltenen Sitzung des Bundesrats (D. Nr. 553) schon vorgelegen
haben, wurde jedoch nicht als Antwort auf den Inhalt der gestellten
Frage angesehen, denn der Reichskanzler erklärte einerseits, die
Antwort sei um 120 mittags fällig gewesen, was die Kenntnis der
Anfrage um Mitternacht voraussetzt, andererseits erklärte er, noch
nicht zu wissen, wie die Antwort laute.
     Die auf 18 Stunden befristete Anfrage an Frankreich wurde in
Paris am 31. Juli, 70 abends, gestellt (D. Nr. 528). Der französische
Ministerpräsident leugnete hierbei, von der russischen allgemeinen
Mobilmachung Kenntnis zu haben, obwohl, wie wir jetzt wissen,
schon am frühen Morgen ein Telegramm der Petersburger Botschaft
mit dieser Nachricht eingetroffen war (Weißbuch Juni 1919, Seite
207). Die Frist lief also bis 1. August, 10 nachmittags. Um diese
Stunde gab der französische Ministerpräsident die Antwort, „Frank-
reich werde das tun, was seine Interessen geböten", setzte aber
hinzu, er sehe „seit gestern Lage als verändert" an, denn nach amt-
licher Mitteilung sei „der Vorschlag Sir Edward Greys allseitiger
Einstellung kriegerischer Vorbereitungen von Rußland im Prinzip
angenommen" und Österreich-Ungarn habe erklärt, daß es „ser-
bisches Territorium und Souveränität nicht antasten werde". Der
kurze, nur 76 Worte zählende, 15 nachmittags abgesandte tele-
graphische Bericht des Botschafters über diese Unterredung (Nr.
571) traf erst 610 abends in Berlin ein, war sonach unter Berück-
sichtigung der Uhrendifferenz sieben Stunden unterwegs, so daß
mit größter Wahrscheinlichkeit eine absichtliche Verzögerung der
Übermittlung durch die französischen Telegraphenbehörden anzu-
nehmen ist.
     In der erwähnten Bundesratssitzung (D. Nr. 553,
Seite 60) hatte der Reichskanzler als Absicht der deutschen Re-
gierung bekanntgegeben, den Krieg an Rußland zu erklären, „wenn
die russische Antwort ungenügend ausfällt", ebenso an Frankreich,
„wenn nicht eine absolut einwandfreie Neutralitätserklärung
kommt". Als nun die Fristen abgelaufen waren*), verfuhr man
jedocn anders als angekündigt.
     Nach Petersburg ging 1252 nachmittags eine Kriegs-
erklärung ab (D. Nr. 542), obwohl eine ungenügende Antwort
nicht vorlag, sondern nur die besprochene, als Antwort über-
haupt nicht angesehene, um 10 morgens abgesandte Meldung (D.
Nr. 536).
     Nach Paris wurde die vorbereitete Kriegserklärung (Nr. 608)
nicht abgeschickt, sondern es wurde 16 nachmittags für die Beant-
wortung des „Eventualvorschlages" — worunter die Überlassung
der Festungen Toul und Verdun zu verstehen ist — eine weitere
Frist von zwei Stunden, also bis 30 nachmittags gewährt (D. Nr.
543). Das Telegramm konnte trotz der Uhrendifferenz unmöglich
noch rechtzeitig (16 = 126 Pariser Zeit) in die Hände des Botschafters
gelangen, der es denn auch erst nach 30 (= 40 Berliner Zeit) erhielt
(D. Nr. 598).
     Um 50 nachm. erging sodann der Mobilmachungs-
befehl für Heer und Flotte in Deutschland (D.
Nr. 554, Anmerkung 4). Die Berechtigung dieser Maßnahme kann
nach der seit mehr als 29 Stunden offiziell bekannten russischen
allgemeinen Mobilmachung auch der strengste Pazifist nicht be-
streiten. Zwanzig Minuten vorher, um 340 westeuropäischer (= 440
mitteleuropäischer Zeit) hatte auch Frankreich mobil gemacht
(Blaubuch Nr. 136), ohne daß seine Grenzen bedroht waren, und
ohne Kenntnis von der deutschen Kriegserklärung an Rußland.
Die Erklärung des „Zustandes drohender Kriegsgefahr" in Deutsch-
land war auch kein zwingender Grund; die entsprechende Gegen-
maßnahme, Aufstellung des Grenzschutzes, war ja, wie oben (auf
Seite 28) erwähnt, schon spätestens am 31 , Juli getroffen. Hingegen
bestand immerhin die Verpflichtung gemäß Artikel 2 der franzö-
sisch-russischen Militärkonvention, denn eine Macht des Drei-
bundes, nämlich Österreich-Ungarn, hatte ja in Beantwortung der
russischen Maßnahmen um 1223 nachmittags den Mobilmachungs-
befehl erlassen. Ob freilich die Meldung des französischen Bot-
schafters in Wien (Gelbbuch Nr. 115) schon in Paris eingetroffen
sein konnte, ist zweifelhaft. Bekannt wurde die Tatsache der fran-
zösischen Mobilmachung in Berlin erst 95 abends durch ein Tele-
gramm des Militärattaches (D. Nr. 590), worin die Stunde der
Mobilisierungsorder ungenau auf 50 (= 60 Berliner Zeit) an-
gegeben ist.
     Anders liegt die Berechtigungsfrage hinsichtlich der Kriegs-
erklärungan Rußland. Daß sie vom pazifistischen Stand-
punkte aus nicht verteidigt werden kann, bedarf keiner weiteren
Ausführung. Aber auch vom realpolitischen wirkte sie
sicher in höchstem Grade nachteilig, denn sie schob die formelle
Schuld des letzten Schrittes auf Deutschland. Selbst nach mili-
tärischen Gesichtspunkten lag ein zwingender Grund nicht vor.
Der auf den zwei Voraussetzungen der langsamen Mobilmachung
Rußlands und des raschen Sieges über Frankreich aufgebaute
deutsche Kriegsplan forderte den schleunigen Beginn der Opera-
tionen im Westen, nicht aber im Osten, wo im Gegenteil
in Anbetracht der Stärkeverhältnisse ein tunlichst später Beginn
des Kriegszustandes erwünscht war. Da man nun die ursprüng-
liche Absicht der gleichzeitigen Kriegserklärung an Frankreich
nicht ausführte, scheint mir, soweit die bisherigen Veröffentlichungen
ein Urteil zulassen, in der Kriegserklärung an Rußland auch in rein
militärischer Beziehung ein Denkfehler vorzuliegen. Darüber,
warum die beabsichtigte und vorbereitete Kriegserklärung an
Frankreich nicht abgesandt wurde, geben die Akten keinen er-
schöpfenden Aufschluß. Zunächst war es wohl das Ausbleiben
einer französischen Antwort, vor deren Empfang man sich scheute,
diesen Schritt zu unternehmen. Als sie endlich 610 eintraf, hatte
sich folgendes ereignet:
     Um 25 nachmittags hatte Kaiser Wilhelm ein Telegramm des
Zaren erhalten (D. Nr. 546), worin dieser, obwohl damals Deutsch-
land noch gar nicht mobilisiert hatte, zugab, daß Deutschland zu
einer solchen Maßnahme „gezwungen" sei, gleichzeitig aber
um eine Zusicherung bat, daß die Mobilmachung „n i c h t  Krieg
bedeute", — ein weiterer Beweis dafür, wie ungerechtfertigt die
Unterstellung ist (K. Seite 139), als wäre Rußland über die deutsche
Auffassung hinsichtlich dieses Punktes im Zweifel gelassen worden.
     Etwa zwei Stunden später, um 423, traf sodann von der Lon-
doner Botschaft ein Telegramm ein, das die Möglichkeit einer
„Neutralität Frankreichs" in einem deutsch-russischen
Kriege in Aussicht stellte (D. Nr. 562). Zur Kenntnis der maß-
gebenden Stellen gelangte diese Depesche nach beendeter Dechiff-
rierung anscheinend erst, nachdem um 50 die Mobilmachung aus-
gesprochen worden war.
     Eifrig wurde das unerwartete Angebot aufgegriffen und —
in weitgehender Unterschätzung der französisch-russischen Soli-
darität — die Eventualität eines deutsch-russischen Krieges ohne
Beteiligung Frankreichs ins Auge gefaßt (D. Nr. 575, 578 und 579).
Die vorbereitete Kriegserklärung an Frankreich wurde zwar nach
Eintreffen der Antwort aus Paris um 610 noch ergänzt (D. Nr. 608),
aber wiederum nicht abgesandt.*) Auch militärische Anordnungen,
die jedes Überschreiten der französischen Grenze, selbst durch
Patrouillen, verhindern wollten, wurden erlassen.
     Weiterhin ging um 70 abends im Berliner Schloß ein Telegramm
des Königs von England ein, worin er den Empfang der deutschen
Beschwerde über die russische Mobilmachung (D. Nr. 477) be-
stätigte und mitteilte, daß er dem Zaren seine Bereitwilligkeit aus-
gedrückt habe, alles zu tun, „um die Wiederaufnahme der Be-
sprechungen zwischen den beteiligten Mächten zu fördern" (D.
Nr. 574). Endlich überreichte zu einer aus den Akten nicht ersicht-
lichen Zeit der britische Botschafter eine Aufzeichnung, wonach
Sir Edward Grey wissen ließ, „er höre von der russischen Regierung,
daß die österreichisch-ungarische Regierung bereit sei, die Lage
mit der russischen Regierung zu besprechen, und daß die russische
Regierung bereit sei, eine Vermittlung auf der Grundlage einer
solchen Besprechung anzunehmen" (D. Nr. 595).
     War es nun die Einwirkung dieser, teils vor, teils nach der
Pariser Antwort erhaltenen Nachrichten, oder waren es andere Ein-
flüsse; am späten Abend scheint sich die Ansicht durchgerungen
zu haben, daß vielleicht nicht nur der Krieg mit Frankreich, sondern
auch der mit Rußland zu vermeiden sei. Um 945 wurde nämlich
im Auswärtigen Amt auf das 25 eingetroffene Telegramm des Zaren
eine Antwort entworfen, die trotz der abgesandten Kriegserklärung
einen neuen Anknüpfungspunkt für Unterhandlungen bieten konnte
(D. Nr. 600). Die um 100 vom Kaiser unterzeichnete Depesche
ging 1030 dringend und offen ab. Hoffte man vielleicht, daß sie die
vor zehn Stunden abgesandte chiffrierte Kriegserklärung noch über-
holen könnte? Nach den deutschen Weißbüchern vom August 1914
und Mai 1915 mußte man annehmen, daß dieses Telegramm schon
etwa um 20 nachmittags abgeschickt worden war; seine Bedeutung
konnte daher bis jetzt nicht richtig eingeschätzt werden.
     Diese letzten Schritte waren vergebens. Nachdem 96 "nach-
mittags die französische Mobilmachung gemeldet war (D. Nr. 590),
berichtete Fürst Lichnowsky 102, daß nach Ansicht des Londoner
Kabinetts „die Antwort der deutschen Regierung bezüglich der
Neutralität Belgiens sehr bedauerlich sei" (D. Nr. 596), und um
IP" nachm., daß die Anregung wegen der Neutralität Frankreichs
hinfällig wäre (D. Nr. 603). Die Bedeutung des Telegramms an den
Zaren aber wurde weder vom russischen Außenminister noch vom
deutschen Botschafter richtig gewürdigt. Dieser glaubte sogar,
es handle sich wohl um ein schon 24 Stunden früher aufgegebenes,
in der Übermittlung verzögertes Telegramm (D. Nr. 666).
     Von all diesen Zusammenhängen findet sich in der Kautsky-
schen Darstellung außerordentlich wenig. Die Bundesratssitzung
vom 1. August, deren Protokoll doch eines der wichtigsten Akten-
stücke der ganzen Sammlung bildet, wird überhaupt nicht erwähnt.
Die Wirkung, die das Londoner Telegramm über die Möglichkeit
der Neutralität Frankreichs spielte, wird nicht erkannt. Für das
letzte Telegramm an den Zaren gibt es nur Spott und Hohn. „Ab-
sonderlichste Episode", „Komödie der Irrungen und Wirrungen",
„unerklärlich", der Kaiser und alle seine Ratgeber hatten „den
Kopf verloren" (K. Seite 140 und 141), das sind die Aufklärungen,
die dem Leser geboten werden.
     Kautsky weiß auch ebenso wenig, wie ich es bis vor kurzem
gewußt habe, daß die von ihm als „schwächlich und verschroben"
bezeichnete Formel der Kriegserklärung an Rußland : , .betrachtet
sich als im Kriegszustande mit Rußland befindlich", nach Ansicht
mancher Völkerrechtslehrer eine Form darstellt, die der Gegenpartei
noch eine Möglichkeit zu Verhandlungen bieten soll. Wenn man
auch diese, wohl etwas spitzfindige juristische Interpretation nicht
anerkennt, so sollte man doch wissen, daß Napoleon III. 1870 und
Wilson 1917 in ihren Kriegserklärungen an Deutschland sich ebenso
„schwächlich und verschroben" ausgedrückt haben.
     Zur Kriegserklärung an Frankreich kam es dann am
3. August (D. Nr. 734— 734c). Sie beruhte nicht „vor allem" auf
den Bombenwürfen „mysteriöser Flieger" (K. Seite 155), sondern
auf Grenzverletzungen zu Lande, die aus dem, von den französischen
Behörden völkerrechtswidrig und anscheinend unter genauer Kennt-
nis des deutschen Chiffres stark verstümmelten Text der Kriegs-
erklärung nicht entnommen werden konnten. Über den Umfang
dieser Grenzverletzungen zu Lande geben die Anlage II des deutschen
Weißbuches vom Juni 1919 und die „Deutsche Allgemeine Zeitung"
vom 25. Juni 1919 Nr. 297 näheren Aufschluß.
     Es bleibt noch die Frage, wie wohl die Dinge gekommen wären,
wenn der übereilte Schritt der Kriegserklärung an Rußland nicht
erfolgt wäre. Eine bestimmte Antwort darauf ist schwer möglich.
     Aber nach dem, was seit dem Frühsommer 1919 einerseits durch
die russischen Enthüllungen, andererseits über die französisch-
russische Militärkonvention bekannt geworden ist, spricht die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Krieg nicht vermieden worden
wäre. Rußland war nicht bereit zu demobilisieren und auch nicht
bereit, eine Zusicherung dafür zu geben, daß es nicht später zu den
Waffen greifen würde, falls eine Einigung mit Österreich-Ungarn
nicht zustande käme (D. Nr. 536). Frankreich mobilisierte un-
abhängig von und zeitlich etwas vor der deutschen Mobil-
machung und ohne Kenntnis der deutschen Kriegserklärung an
Rußland, in Ausführung von Artikel 2 der Militärkonvention von
1892. Man kann wohl kaum bezweifeln, daß auch der 3. Artikel
dieser Konvention befolgt worden wäre, wonach die mobilgemachten
Streitkräfte „ungesäumt (in aller Eile) zu entscheidendem (nach-
drücklichstem) Kampf einzusetzen waren" (ces forces s'engageront
à fond, en toute diligence). Diese Auffassung, daß Mobilmachung
gleichbedeutend mit Krieg sei, war also nicht, wie man lange glauben
konnte, ja, nach den amtlichen französischen und russischen Ver-
sicherungen annehmen mußte, ein deutsches Reservat, sondern
war schon 22 Jahre vor dem Kriege vertraglich zwischen Frankreich
und Rußland festgelegt worden. Sie wurde am Tage nach der Unter-
zeichnung der Konvention durch den französischen Unterhändler,
General Boisdeffre, noch bekräftigt, der dem Zaren auseinander-
setzte, „Mobilmachung bedeutet Kriegserklärung" (la mobilisation
c'est ia declaration de guerre) und diesen Satz dann noch näher
erläuterte (Anhang Nr. 3) ; noch schärfer hatte nach einem Bericht
des französischen Militärattaches vom 16. Juli 1892 der russische
Generalstabschef sich ausgedrückt, der die Mobilmachung sogar
als „untrennbar von einem Angriff" (inseparable d'une agression)
angesehen wissen wollte (Anhang Nr. 4).
     Tatsächlich wurden Versuche zu Grenzüberschrei-
tungendurchrussische Truppen schon am 2. August,
40 vormittags (= 5 Uhr osteurop. Zeit), also 10 Stunden nach Über-
gabe der deutschen Kriegserklärung in Petersburg, gemeldet. Hier-
wegen ergeben sich manche Fragen, deren Beantwortung die weitere
Forschung trotz der entstehenden großen Schwierigkeiten versuchen
muß. Es kommt in Betracht, wann die Nachricht von der deutschen
Kriegserklärung zu den russischen Befehlshabern an der Grenze
gelangt sein kann, wann diese ihre Anordnungen erließen, welche
Stärke die betreffenden Abteilungen hatten. Der Vorwurf des
deutschen Weißbuches vom August 1914, die Russen hätten die
Grenze überschritten, bevor in Berlin eine Meldung über die Über-
gabe der Kriegserklärung eingetroffen war, ist selbstverständlich
nicht gerechtfertigt, denn der Kriegszustand trat ein mit Über-
gabe der Kriegserklärung, nicht mit dem Eintreffen der M e I -
düng über die Ausführung dieses Auftrags. Es liegt hier eine
Flüchtigkeit vor, wie sie bei einer in größter Eile angefertigten
Denkschrift wohl erklärlich ist.
     Von französischer Seite fanden, wie bei der deutschen
Kriegserklärung an Frankreich erwähnt, schon bald nach Erlaß
des Mobilmachungsbefehls vielfache Verletzungen deutschen Ge-
biets statt, obwohl vorsorglich die Anordnung getroffen worden
war, die Truppen sollten 10 km von der Grenze abbleiben. Nach
mehr als vierzigjährigem Frieden können eben Millionenheere ohne
solche Zwischenfälle sich nicht auf nächste Entfernung gegen-
überstehen. Daß jedoch in Frankreich auch Ernsteres erwogen
wurde, beweist nachstehende Depesche des russischen Botschafters
in Paris an das Ministerium in Petersburg (Weißbuch Juni 1919,
Seite 207/8):
        „Die Deutschen überschreiten in einzelnen kleinen Ab-
   teilungen die französische Grenze, und auf dem französischen
   Territorium erfolgten bereits einige Zusammenstöße. Das wird
   der Regierung die Möglichkeit geben, vor den zu Dienstag
   (4. August) einberufenen Kammern zu erklären, daß auf Frank-
   reich ein Überfall verübt worden sei, und so die formale Kriegs-
   erklärung zu vermeiden."
     Dieser Gedanke, man könne ohne das überflüssige Zwischen-
glied der „formalen Kriegserklärung" den Beginn der Operationen
unmittelbar an die Mobilmachung anschließen, wird wohl kaum
ohne das Einverständnis der französischen Militärs und der fran-
zösischen Regierung nach Petersburg gemeldet worden sein.
     Auf deutscher Seite stehen dem freilich gegenüber der
Einmarsch in das neutrale Luxemburg mit schwachen Abteilungen
schon am Abend des 1., mit stärkeren Truppen am frühen Morgen
des 2. August, ferner am Morgen des 4. das viel verhängnisvollere
Betreten belgischen Gebietes.


 *) Unter Berücksichtigung der Uhrendifferenz wäre der genaue Zeitpunkt
für Ablauf der Fristen nach mitteleuropäischer Zeit gewesen: für
die Anfrage in Petersburg 110 vormittags, nicht 120 mittags; für die Anfrage
in Paris 20, nicht 10 nachmittags.

 *) Auch die schon verstrichene Zeit für Übergabe der Note (60) wurde
nicht mehr berichtigt.