Vorbemerkung

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WWI Document Archive > Official Papers > Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 — Volume 5 (Commentary) > Vorbemerkung


     Die Erörterung der Schuld am Ausbruch des Krieges ist durch
die Veröffentlichung des deutschen und österreichisch-ungarischen
Aktenmaterials in ein neues Stadium getreten. Urkunden allein
vermögen zwar kein vollständiges Bild der Geschehnisse zu geben
und die treibenden Kräfte und Motive der Staatsmänner nur zum
Teil zu enthüllen. Immerhin kann man aber auf Grund einer
vollständigen Aktenkenntnis der Wahrheit ein gutes Stück näher-
kommen.
     Andererseits wirkt die Fülle des Materials verwirrend. Heute
liegen der Öffentlichkeit über 900 deutsche Urkunden aus der
Zeit der Krisis von 1914 vor; ferner 350 österreichisch-ungarische.
Diesen stehen 400 Dokumente der Ententemächte gegenüber.
Von vielen der letzteren ist bekannt, daß sie verfälscht sind.
Keins der früheren Farbbücher gab ein wahrheitsgetreues Bild
der Begebenheiten des Juli 1914. Sie sind alle mit einer, be-
stimmten, mehr oder weniger offenbaren Tendenz zusammen-
gestellt, um die Haltung der eigenen Regierung zu rechtfertigen
und den Gegner zu belasten. Gegenüber den Schönfärbereien
der Buntbücher müssen natürlich die vollständigen Berliner
und Wiener Aktensammlungen sehr ungünstig wirken, da sie
einen unverhüllten Einblick in die Werkstätten der „Staatskunst"
gewähren, in denen wir reichlich viel Schmutz und Unrat erblicken.
Die Leser der deutschen Aktenveröffentlichungen können sich
aber überzeugen, daß es in Paris, Petersburg und London nicht
reinlicher zugegangen ist, als in Berlin, und daß vielleicht die
dort geübten Methoden die der deutschen Staatsmänner an Frag-
würdigkeit um vieles übertrafen. Das, was wir gesehen haben,
als Pokrowski*) ein wenig den Vorhang lüftete, berechtigt zu
diesem Schluß.
     Die Veröffentlichung des deutschen Aktenmaterials wird
keineswegs den Streit der Meinungen über die Schuldfrage zum
Schweigen bringen. Aus 900 Dokumenten kann jedermann
leicht eine Zusammenstellung der Urkunden machen, die seine
vorgefaßte Meinung zu rechtfertigen scheinen. Für einen Kenner
des gesamten Materials wäre es eine Kleinigkeit, fünf oder mehr
verschiedene Darstellungen der diplomatischen Hergänge des
Juli 1914 zu schreiben und sie „überzeugend" mit Material zu
belegen. Eine dieser Versionen hat in weitherziger Auslegung
der mit Ablegung des Beamteneides von ihm übernommenen
Verpflichtungen Karl Kautsky zugleich mit der deutschen Akten-
sammlung erscheinen lassen. Der Geschäftssinn von Journalisten
und Verlegern sorgte dafür, daß die ewig sensationslüsterne Mit-
welt, die stets bereit ist, Deutschland Ungünstiges ihr Ohr zu
leihen, die Auffassung Kautskys vernahm, ehe sie Gelegenheit
hatte, sich selbst ein Urteil zu bilden.
     Der Streit der Meinungen über die Entstehung des Welt-
krieges wird zu unseren Lebzeiten nie zur Ruhe kommen, und
wir Deutschen können und dürfen die Erörterung dieser Frage
nicht einschlafen lassen, da der Friedensvertrag von Versailles,
der unsere Zukunft bestimmt, auf dem erzwungenen Geständnis
von Deutschlands alleiniger Schuld am Kriege aufgebaut
ist. Jede Aussicht auf Revision des Vertrages ist bedingt von der
Möglichkeit, diesen Grundpfeiler des „Straffriedens" zu er-
schüttern.
     Die Aufgabe der folgenden Schrift ist nicht, eine Lesart des
deutschen Aktenmaterials zu geben ; sie soll vielmehr dem Ver-
such dienen, die Prüfung des Materials vom Buchstaben loszu-
lösen, die diplomatisch wichtigsten Vorgänge herauszugreifen
und den Rahmen der Erörterung so weit zu stecken, daß eine
objektive Beurteilung der Vorgänge bei Kriegsausbruch möglich
wird. Von dem Nachwort abgesehen, sind Schlußfolgerungen
vermieden worden, wo sie entbehrt werden konnten. Absichtlich
ist stets nur voraugustischen Anschauungen Rechnung getragen
worden, denn dies ist für eine gerechte Würdigung der Gescheh-
nisse erforderlich. Daß die deutsche Regierung 1914 nicht aus
Pazifisten zusammengesetzt war, ist bekannt. Ihr dies nachträglich
zum Vorwurf zu machen, wäre ungerecht. Die Regierungen
unserer Gegner waren ebensowenig, und noch viel weniger, pazi-
fistisch. Jede Schuldfrage ist relativ, nicht absolut. Für die
Beurteilung politischer Handlungen gibt es kein Strafgesetzbuch.
Pazifisten, die der Wechsel der Zeiten zum Richter der früher
Regierenden erhoben hat, können auch beim besten Willen nur
ungerecht urteilen. Schuld und Unschuld lassen sich niemals
von einer Welt- und Lebensauffassung ableiten, sondern nur mit
Handlungen und Unterlassungen begründen.
     Dem Zwecke der Klärung der Frage der Verantwortlichkeit
soll diese Schrift nur in letzter Linie dienen. Ihr Ziel ist, die Er-
kenntnis der Zusammenhänge zu fördern. Lehren für die Zukunft
aus den heißen Julitagen 1914 zu ziehen, ist der Sinn und End-
zweck jeder geschichtlichen und politischen Untersuchung der
Vorgänge bei Kriegsausbruch. Je eher diese begonnen wird,
desto besser. Grundlage der Erkenntnis ist aber das Streben
nach Wahrheit.


 *) Veröffentlichungen in der Prawda vom 23. 2., 6. und 9. 3. 1919. Siehe
deutsche Denkschrift über die Schuldfrage, Versailles, den 27. Mai 1919,
Anl. XI.